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Die Rose von Darjeeling - Roman

Die Rose von Darjeeling - Roman

Titel: Die Rose von Darjeeling - Roman
Autoren: Sylvia Lott
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allem Gustav – als Kind mit Eltern und Großeltern, als Jugendlicher mit Mutter und Großmutter, als Ehemann mit Ivy und Töchterchen, als Gastgeber einer Jagdgesellschaft, als Witwer.
    Hella wollte den Kamin anmachen, was Max ihr gleich abnahm. Hella holte Wasser, Wein und Salzstangen. Als sie dann in ihrem Sessel die Lesebrille zurechtrückte, setzte Max sich neben Julia auf ein abgewetztes Art-déco-Ledersofa. Julia rückte unauffällig von ihm weg, sie hatte das Gefühl, einen Sicherheitsabstand zu benötigen. Im Schein einer Stehlampe begann Hella nun ganz von vorn vorzulesen. Nur Auflistungen der Ausrüstung, Angaben zu Schlämmproben oder Sammlungen nepalesischer Ausdrücke für Rhododendren und Ähnliches übersprang sie. Aber alles, was mit dem Reiseverlauf zu tun hatte, Eindrücke von der Überfahrt, der fremden indischen Kultur, der Armut, Schilderungen von den Einreiseschwierigkeiten nach Sikkim, von Klimazonen, Naturerlebnissen und menschlichen Begegnungen trug sie langsam und deutlich vor. Die Liebesgeschichte, die sich zwischen ihm und Kathryn entwickelte, hatte Carl in knappen, stenogrammartigen Notizen festgehalten. Von den ersten Ausflügen zum Tiger Hill über das erste Bewusstwerden seiner Verliebtheit bis zum Abschied. Auch die Eifersucht der Freunde aufeinander klang, manchmal nur zwischen den Zeilen, aber doch unmissverständlich an. Hella las auch die Beschreibung von Kathryns Wunschrhododendron vor, den Carl ihr züchten sollte.
    Das Feuer brannte nieder, Max schichtete Holz nach. Julia zog die Schuhe aus und kauerte sich mit einem Sofakissen vor dem Bauch in ihrer Sofaecke zusammen.
    Hella kam nun zum Eintrag über den Besuch im buddhistischen Kloster. »Heute Begegnung mit weisem Mann, Lama Rinpoche. Jeder sollte sagen, was Sinn seines Lebens. C: mit neuen Rhodohybriden die Welt schöner machen. K: Liebe, Wohlstand und anderen helfen. G: Dynastie gründen und Einfluss nehmen. Der Rat des Lamas: vor Gier und Hass hüten. Achtsamkeit üben. Wahrnehmen, was wirklich ist und nicht werten. Seine Weissagung wörtlich: ›Für jeden von euch wird die Saat aufgehen, aber anders als erwartet.‹ – Tiefer Eindruck.«
    Hella ließ das Büchlein auf ihren Schoß sinken. Sie legte ihre Lesebrille auf die breite Sessellehne und wischte sich Tränen aus den Augen. Die alte friesische Uhr mit den drei schaukelnden Segelschiffen schlug elf Uhr.
    Julia schaute ins Feuer. »Carl hat doch erreicht, was er erreichen wollte«, sagte sie nachdenklich. »Und Kathryn auch. Nur bei Gustav hat sich dieser Lama getäuscht …«
    Hella schluchzte auf. Erschrocken schaute Julia hoch.
    »Entschuldigung.« Hella putzte sich die Nase. Sie stand auf. »Kommt mit, ich muss euch was zeigen.« Ganz selbstverständlich war sie zum Du übergegangen.
    Die alte Frau schlurfte vom Wohnzimmer in die Diele. Sie machte die Deckenleuchte an, sofort sprang einem das Fell des Schneeleoparden ins Auge. »Den hat mein Vater damals in Darjeeling erlegt«, sagte Hella. »Aber ich möchte euch etwas anderes zeigen.« Sie knipste eine Wandlampe an, die ein Bild an der bislang im Dunkeln liegenden Wand hinter einer rustikalen Holztreppe anstrahlte. »Das Porträt meines Urgroßvaters, der 1855 das Teehandelskontor gegründet hat, Gustav Theodor ter Fehn.«
    Einige Sekunden lang herrschte Stille.
    »Was zum Teufel …?«, stieß Max verblüfft hervor.
    Julia schaute vom Ölbild zu Max und von Max zum Ölbild. Das war er! Nur mit Backenbart und in einem altmodischen Anzug mit steifem Kragen. Max schaute aus dem Rahmen mit würdevollem Blick auf sie herab. Einige Jahre älter vielleicht, Ende dreißig, und die Haare etwas blonder.
    Julia fing an, hysterisch zu lachen. Nicht ihr Großvater Carl Jonas, sondern Gustav ter Fehn war der Vater von Kathryns Sohn!
    Hella hatte seit Jahren nicht so viele Emotionen durchlebt wie an diesem einen Abend. Sie musste weinen und lachen zugleich.
    Schließlich bewies Max, dass Vererbung nicht alles war. Ein wenig Erziehung zu aristokratischer britischer Nonchalance konnte er ebenfalls vorweisen. »Also«, sagte er, »ich muss mich korrigieren. Dann hat sich der Lama wohl auch bei Gustav nicht getäuscht.«
    »Ich finde, es ist an der Zeit, dass wir endlich die Fehde zwischen unseren Familien beenden«, sagte Hella. »Was meint ihr?«
    Sie gingen zurück ins Wohnzimmer. Hella nahm drei Zinnlöffel aus ihrer Holzhalterung von der Wand, holte eine Flasche Weizenkorn aus dem Kühlschrank. Sie setzten sich wieder
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