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Die Ritter des Nordens

Die Ritter des Nordens

Titel: Die Ritter des Nordens
Autoren: James Aitcheson
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weichen Boden. Um die Mittagszeit hatte es eine Weile geregnet. Deshalb war der Boden unter den Bäumen so feucht, dass die Hufe der feindlichen Pferde darin deutliche Abdrücke hinterlassen hatten.
    Aber diese Spuren waren nicht der Grund, weshalb er mich gerufen hatte. Vielmehr hielt er einen hellen Gegenstand in der Hand, der ungefähr so lang war wie sein Mittelfinger: einen Hirschhornkamm, der mit roten und grünen Kreuzen und Dreiecken verziert war und in den jemand an einem Ende ein winziges »H« geritzt hatte.
    Ich nahm den Kamm und drehte ihn aufmerksam zwischen den Fingern hin und her, während ich mit dem Fingernagel den Schmutz von seinen Zinken abkratzte.
    »Glaubst du, der gehört einer von den Frauen?«, fragte ich leise.
    »Wem denn sonst, Mylord?«, entgegnete Ædda. Er gehörte zu den wenigen Engländern in Earnford, die des Französischen mächtig waren. »Wir sind doch mindestens eine Stunde vom nächsten Dorf entfernt.«
    Er sah mich mit dem einen Auge an, das ihm geblieben war; das andere hatte er vor ein paar Jahren bei einer Rauferei verloren. An seiner Stelle war eine hässliche dunkle Narbe zurückgeblieben. Tatsächlich sah der Mann ziemlich furchterregend aus: Denn ihm fehlte nicht nur das Auge, sondern auch die Wange war durch eine böse, schlecht verheilte Brandwunde entstellt. Hinzu kam, dass er nicht besonders freundlich war, sondern ziemlich reizbar und aufbrausend – ein Mann, mit dem man sich besser nicht anlegte. Doch im Gegensatz zu den Leuten in Earnford, die ihn fürchteten, konnte mich das alles nicht beeindrucken. Ich hatte im Laufe der Jahre auf dem Schlachtfeld schon ganz andere Haudegen kennengelernt.
    Ich nickte ernst und steckte den Kamm dann in meinen Geldbeutel. Wenigstens waren wir auf der richtigen Spur. Ob es allerdings eher ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, dass jemand den Kamm hier fallen gelassen hatte, war schwer zu beurteilen.
    »Wir ziehen weiter«, rief ich den anderen zu, als ich wieder zu meinem Pferd ging. Ich schwang mich in den Sattel und war plötzlich wieder von einem unbändigen Tatendrang erfüllt. Ich drückte dem Pferd die Fersen in die Flanken, drängte es vorwärts und rief: »Wir haben nicht mehr weit.«
    Kurz darauf führte der Weg einen steilen Hang hinauf, und wir mussten absitzen und die Pferde am Zügel führen. Die Sonne stand direkt vor uns am Himmel und strahlte uns, sooft der Wind zwischen den Ästen eine Lücke öffnete, voll ins Gesicht. Ringsum herrschte ein Höllenlärm: lautes Vogelgezwitscher und dazu das Summen zahlloser Insekten. Trotzdem hatte ich ein merkwürdiges Gefühl, denn offenbar waren wir weit und breit die einzigen Menschen. Ich verspürte ein seltsames Kribbeln im Schwertarm; meine Hand krampfte sich ständig zusammen, als ob sie das Heft meines Schwertes ergreifen wollte. Ich hatte mich im Wald noch nie besonders wohlgefühlt, weil es so schwierig war, sich dort zu orientieren. Wohin man auch blickte, überall sah es gleich aus. Außerdem konnten sich im Wald überall Feinde versteckt halten, ob im Unterholz, hinter umgestürzten Bäumen oder unter tief hängenden Ästen.
    »Haltet die Augen offen«, sagte ich zu Serlo und den beiden anderen jungen Rittern, die mich begleiteten: dem vor Ehrgeiz brennenden Turold und Pons, dessen Blick so durchdringend und kalt war wie die Klinge seines Schwertes. Die drei waren gewiss nicht die geschicktesten Schwertkämpfer und auch nicht die besten Reiter, die ich kannte; trotzdem bildeten sie gemeinsam einen schlagkräftigen kleinen Trupp. Obwohl ich sie erst seit knapp einem Jahr bei mir hatte, hatte ich mein Leben in ihre Hand gelegt. Sie hatten mir Treue und Gefolgschaft geschworen, und so waren wir nun auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden.
    Die Sonne stand inzwischen tief am Himmel, und die Schatten wurden immer länger. Hier und da malte das Abendlicht rötlich gelbe Flecken zwischen den Bäumen auf den Waldboden. Daheim im Dorf würden sich die Leute gewiss schon fragen, was wohl aus uns geworden war und ob wir an diesem Abend noch nach Hause kommen würden. In der Ferne war der Ruf einer Eule zu hören, die sich für die nächtliche Jagd bereitmachte. Als ich gerade überlegte, ob wir die Verfolgung für heute abbrechen sollten, blieb Turold, der direkt vor mir ging, unvermittelt stehen.
    »Was ist?«, fragte ich.
    Er blickte aufmerksam in die Ferne, irgendwohin zu unserer Rechten. »Ich glaube, ich habe etwas gehört.«
    »Ach, das bildest du dir doch
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