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Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)

Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)

Titel: Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)
Autoren: Ugo Riccarelli
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er verstand, dass er alles einsah, aber gewiss doch.
    Beniamino hörte stumm zu, wie die Mutter dem Professor die Sorgen und Ängste ausschüttete, die sie so viele Tage lang zum Weinen gebracht hatten, und es erleichterte ihn, dass er hinter diesen Worten endlich denselben energischen Zugriff erkannte, den er an seinem Vater erlebt hatte, wenn er in wenigen Sätzen einen Stoff beschrieb und Kunden zum Kauf bewegte. Doch als der Wortschwall verebbte, Tiziani aufhörte, der Mutter zuzunicken, und ihn anblickte, begriff er, dass der Moment gekommen war, auf eigenen Füßen loszumarschieren, obwohl seine Ideen vage und schwankend waren wie sein Gang.
    Er sah sich in dem Zimmer um, wo Gemälde, einige Fotografien hochangesehener Professoren und Darstellungen der menschlichen Anatomie an den Wänden hingen, außerdem in einer Ecke, ein beunruhigender Anblick, ein vollständiges menschliches Skelett in aufrechter Haltung. Die Umgebung erinnerte ihn an seine Vorlesungssäle, also fasste er Mut, indem er sich vorstellte, er stünde vor einer Prüfungskommission, wo man gut daran tat, sich präzise und knapp auszudrücken, da es ohnehin zwecklos war, das Thema mit zu vielen Sätzen zu umkreisen, wenn man das Wesentliche des Stoffs nicht beherrschte. Er senkte den Blick auf Tizianis Schreibtisch, als suchte er dort einen Anhaltspunkt, und begann zu sprechen.
    »Sehr geehrter Herr Professor«, sagte er, »ich bin hier, weil ich Sie um eine Arbeit bitten möchte, denn mir obliegt jetzt die Aufgabe, meiner Familie zu helfen, meiner Mutter, meiner Schwester und der alten Aida. Wie Sie wissen, wohnen wir direkt auf der anderen Seite dieser Mauer«, er zeigte zur Erläuterung aus dem Fenster, »und ich beobachte diesen Ort seit meiner Kindheit, als wäre er ein Teil meines Elternhauses. Wie Mama Ihnen schon sagte, verstehe ich nichts vom Verkaufen, aber ich glaube, ich könnte Ihnen nützlich sein bei allem, was man tun kann, um leidenden Menschen zu helfen, denn im Grunde ist es ja genau das, was ich versuchen werde, sobald ich das Studium abschließen und promovieren kann.«
    Als er zu Ende gesprochen hatte, machte er es so wie nach einer Prüfung, er blickte Tiziani direkt in die Augen, wie um eine Beurteilung zu erraten. Der Professor betrachtete ihn eine Weile, als wöge er ab, was ihm gesagt worden war, dann lächelte er und sagte, dass er verstehe und dass dieses Vorhaben einem jungen Mann alle Ehre mache, der, wie er soeben habe feststellen können, reif genug war, um die Verantwortung für eine Familie auf sich zu nehmen, und gleichzeitig nicht darauf verzichten wollte, sein Studium abzuschließen.
    Er verstehe, und darum werde er eine Möglichkeit finden, Beniamino in dieser besonderen Familie aufzunehmen, deren Oberhaupt er sei – und bei diesen Worten breitete er die Arme aus wie der Papst –, da er gerade in der derzeitigen schwierigen Situation zupackende Hände, Menschen mit Intelligenz, Kraft und Sensibilität brauche.
    »Drei unserer tüchtigsten Mitarbeiter«, erklärte er, »wurden zum Dienst am Vaterland eingezogen, das in Abessinien Krieg führt. Die Notlage Ihrer Familie wird damit für mich zu einer guten Gelegenheit, Ihnen die Arbeit anzubieten, mit der Sie Ihre Familie gewiss werden unterstützen können.«
    Dann erhob er sich von seinem Schreibtisch und streckte Beniamino die Hand aus, um ihn zu beglückwünschen. Die Prüfung war bestanden, vielleicht sogar mit einer guten Note. Elemira legte sich eine Hand auf den Mund und unterdrückte ein aufsteigendes Schluchzen im Bemühen, ihr Versprechen zu halten, keine Tränen mehr zu vergießen.
    So verabschiedeten sie sich, nachdem Tiziani Beniamino erklärt hatte, was zu tun war, mit wem er sprechen musste und wann, und als sie die Treppe zum Ausgang hinunterstiegen, schien das Dunkel, das sie beim Eintreten umfangen hatte, sich ein wenig gelichtet zu haben. Sogar der Geruch, diese ätzende Mischung aus Tiergestank und schlecht desinfiziertem Schmerz, erschien ihnen schwächer, beinahe erträglich.

S O KAM ES, dass Beniamino auf die andere Seite des Maschendrahtzauns gelangte und sich mitten unter den Irren wiederfand, die er zuvor vom Garten seines Hauses aus hinter dem Rosenbusch beobachtet hatte, der diese Umzäunung nun schon fast ganz bedeckte.
    Morgens legte er die wenigen Meter, die ihn von seinem Arbeitsplatz trennten, in einem zwiespältigen Gemütszustand zurück: einerseits empfand er Genugtuung, weil er diese Anstellung bekommen hatte,
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