Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)

Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)

Titel: Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)
Autoren: Ugo Riccarelli
Vom Netzwerk:
andererseits belastete ihn der Kontakt mit Gesichtern, Geräuschen und Gerüchen, die ihn beunruhigten und verletzten.
    Die Schatten, die er jahrelang beobachtet hatte, gewannen jetzt neben ihm Gestalt, wurden zu Klumpen aus Fleisch und Knochen, die von einem eigenartigen Leiden beherrscht wurden, von etwas Offensichtlichem und gleichzeitig Geheimnisvollem, das Verwirrung und Mitleid hervorrief. Das Beste und das Schlimmste der Menschheit schienen hier versammelt. Manchmal wirkte die Apathie der Irren wie die Eingangstür zu einer abstrakten Dimension und ein versponnener, friedlicher Gesichtsausdruck wie das Anzeichen für die Erkundung von phantastischen, wundervollen Welten. Doch neben dieser scheinbaren Gemütsruhe brüllten Blicke, die von einer unbezwinglichen Angst gepeinigt wurden, durchdrungen waren von einem realen Alptraum, der die Seelen gefangenhielt und folterte. Diese Schreie, die manchmal aus heiterem Himmel kamen und gar nicht mehr aufhörten. Das blubbernde Gemurmel stundenlang verfolgter Gedankengänge. Die unglaubliche Kraft des Zitterns und der Krämpfe, die nur feste Lederriemen zu bändigen vermochten.
    Angesichts dieses Leidens gewann Beniamino den Eindruck, dass nichts getan werden konnte. Sogar die Medizin, die Wissenschaft, die er studiert hatte und mit der die Herren Doktoren bei ihren Visiten und Heilmethoden prunkten, erschien ihm vollkommen untauglich für das Verständnis oder die Linderung dessen, was kaum zu verstehen und zu lindern war.
    Die Menschen, die durch das Eingangstor des Irrenhauses gekommen waren, jene, die sich in den Betten seiner vier großen Schlafsäle ausstreckten oder zusammenkrümmten, die in einem langen Hemd durch die Gänge irrten oder auf den Pritschen liegenblieben, von den Armen der Aufseher oder den Lederriemen gezähmt, schienen allesamt mit diesem Eingangstor ihre persönlichen Säulen des Herakles durchschritten zu haben. Es war eine Grenze, hinter der für sie fortan alles verschlossen war: ihre Gefühle, die kleinen Geschichten ihres Lebens, die Kleider, die sie angezogen und die Gegenstände, die sie besessen hatten, all das blieb draußen, als wäre es am Ufer niedergelegt worden, bevor der Wahnsinn ihnen den entscheidenden Stoß versetzte, der sie in einen Ozean stürzte.
    Und dort waren sie, schutzlos Stürmen und Flauten ausgeliefert, fast alle armselige, führerlos umhertreibende Boote und schon bald mit Verkrustungen und Schimmel bedeckt, die die Feuchtigkeit dieser weiten Meeresfläche auf ihnen wuchern ließ, um sie allmählich zu umschlingen. So senkte sich mit der Zeit das Deck, und schließlich waren sie von Schlamm bedeckt wie uralte Wracks.
    Doch inmitten dieses Verfalls erblickte man gelegentlich auch ein Stück saubere Schiffshaut, ein paar trockene Wanten, den noch bunten Fetzen einer Fahne, die tausend Unwetter überlebt hatte. Das waren kurze Lichtblicke, die sich meist sofort wieder verdunkelten, erstickt von Gleichgültigkeit oder Verzweiflung, von der Finsternis, die alles umgab und alles unerbittlich aufsaugte.
    Die Gewohnheit, der vertraute tägliche Umgang mit dieser Finsternis ließ die Menschen, die sich um die Irren kümmerten, für den Kurs dieser verwahrlosten Schiffe unempfindlich werden, und sie begegneten ihnen zerstreut oder resigniert, da sie nicht verstanden oder nicht mehr verstehen wollten. Auch die konkreten Abläufe im Leben dieser prekären Gemeinschaft trugen dazu bei, die Schicksale zu trennen: Regeln, Pflichten, praktische Notwendigkeiten erwiesen sich meist als wichtiger als die eigenen Wünsche oder Wege dieser Existenzen, und durch ihre ständige Wiederholung, den Zwang, ihnen zu gehorchen, schufen sie das Bett eines Kanals, vielleicht auch ein Labyrinth, von dem aus keiner mehr aufs offene Meer hinausfahren konnte.
    Das morgendliche Wecken, die Zeit für die Körperwäsche, der Moment, in dem die Irren in den großen Saal gebracht wurden oder in den Hof, wenn das Wetter es erlaubte, das Austeilen des Essens und das Ritual des Aufmarsches der Doktoren durch die Abteilungen, schließlich der Zeitpunkt, an dem sie wie eine dahintrottende Herde zurück in die Schlafsäle geleitet wurden, wenn die Dunkelheit sich der Räume bemächtigte und die Stille immer wieder durch die Geräusche eines von Ängsten und Gespenstern heimgesuchten Schlafs verletzt wurde – all das schien sich unendlich oft wiederholen zu müssen, damit der scheinbare Stillstand half, eine Last zu tragen, die sonst unerträglich gewesen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher