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Die Reise Nach Petuschki

Titel: Die Reise Nach Petuschki
Autoren: Wenedikt Jerofejew
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massakrieren sie mich, nach allen Regeln der Kunst.
    »Pfui!«
    »Wer hat hier ›Pfui‹ gesagt? Wart ihr es, Engel?«
    »Ja, wir haben das gesagt. Pfui, Wenja, wie kann man nur so schimpfen!!«
    »Wie soll man da nicht schimpfen! Sagt doch selbst! Dieser alberne Alltagskram hat mich so demoralisiert, daß ich seit jenem Tag nicht mehr nüchtern werde. Man kann zwar nicht gerade sagen, daß ich vorher besonders nüchtern gewesen wäre, aber immerhin habe ich mir noch gemerkt, was ich trinke und in welcher Reihenfolge.
    Und jetzt kann ich mir nicht einmal mehr das merken ... Bei mir geht alles durcheinander, alles im Leben geht irgendwie durcheinander: mal trinke ich eine ganze Woche lang gar nichts, dann trinke ich wieder vierzig Tage, dann
    wie»
    »Wir verstehen, wir verstehen alles. Man hat dich gekränkt und dein goldenes Herz ... «
    Ja, ja, an jenem Tag kämpfte mein goldenes Herz eine geschlagene halbe Stunde mit dem Verstand. Wie in den Tragödien von Pierre Corneille, dem preisgekrönten Dichter: die Pflicht kämpft mit der Stimme des Herzens. Nur war es bei mir umgekehrt: die Stimme des Herzens kämpfte mit dem Verstand und der Pflicht. Mein Herz sagte mir: »Man hat dich gekränkt, man hat dich behandelt wie ein Stück Scheiße. Geh, Wenitschka, und besauf dich. Steh auf und geh dich besaufen wie ein Schwein." So sagte mein goldenes Herz. Und mein Verstand? Der grollte und blieb hartnäckig: »Du stehst nicht auf, Jerofejew, du gehst nirgends hin und trinkst keinen einzigen Tropfen." Darauf das Herz: »Schon gut, Wenitschka, schon gut. Viel brauchst du ja nicht zu trinken, du brauchst dich ja nicht gerade zu besaufen wie ein Schwein. Du kannst vierhundert Gramm trinken und dann - Hahn zugedreht!« "Kein einziges Gramm!" widersprach heftig der Verstand. "Wenn es ohne gar nicht geht, dann geh und trink drei Krüge Bier; aber alles, was in Gramm gemessen wird, schlag dir aus dem Kopf, Jerofejew." Mein Herz stöhnte auf: »Wenigstens zweihundert Gramm, zweihundert. Oder ...

Reutowo  —  Nikolskoje
    ... wenigstens hundertfünfzig ..." Und darauf der Verstand: »Also gut, Wenja", sagte er, »hundertfünfzig, nur geh nirgends hin, sondern trink sie zu Hause ... " Und wie, glaubt ihr, ging es weiter? Glaubt ihr, ich hätte hundertfünfzig Gramm getrunken und es dabei zu Hause ausgehalten? Ha-ha. Fünf Tage lang trank ich täglich eintausendfünfhundert Gramm, um es zu Hause auszuhalten, und hielt es trotzdem nicht aus. Am sechsten Tag war ich nämlich schon so aufgeweicht, daß die Grenze zwischen Verstand und Herz verschwunden war, und beide mir einstimmig einhämmerten: »Fahr nach Petuschki, fahr doch! Petuschki - das ist deine Rettung und deine Glückseligkeit. Fahr los!«
    Petuschki - das ist ein Ort, wo die Vögel nicht aufhören zu singen, weder am Tage noch bei Nacht, wo sommers wie winters der Jasmin nicht verblüht. Die Erbsünde, wenn es sie gegeben hat, tangiert dort niemanden. Sogar die, die wochenlang nicht nüchtern werden, behalten dort ihren klaren, unergründlichen Blick ...
    Jeden Freitag, Schlag elf, erwartet mich auf dem Bahnsteig dieses Mädchen mit Augen von weißer, fast fahler Farbe - diese Favoritin unter den Flittchen, diese weißblonde Teufelin. Und heute ist Freitag. In weniger als zwei Stunden wird es genau elf sein, und dann wird sie da sein, der Bahnsteig wird da sein und jener fahlweiße Blick, schamlos und sündig. Kommt mit mir - ihr ahnt nicht, was euch erwartet ... !
    Was habe ich eigentlich hinterlassen dort, wo ich herkomme? Ein paar stinkige Fußlappen und eine Arbeitshose, eine Flachzange und eine Raspel, einen Gehaltsvorschuß und die Spesen. Das habe ich hinterlassen! Und was liegt vor mir? In Petuschki auf dem Bahnsteig? Rotblonde Wimpern, zur Erde gesenkt, wogende Formen, ein Zopf, der vom Nacken bis zum Hintern reicht. Und nach dem Bahnsteig — Kräuterschnaps und Portwein, Entzücken und Krämpfe, Glückseligkeit und Zuckungen. Himmlische Mutter, wie weit ist es noch bis Petuschki!
    Und dort, hinter Petuschki, wo Himmel und Erde miteinander verschmelzen, wo die Wölfin den Mond anheult, dort ist etwas ganz anderes und doch genau dasselbe: dort wächst und gedeiht in rauchigen, verlausten Gemächern mein kleiner Sohn, den meine Schöne mit ihren weißen Augen niemals sah. Das molligste und sanftmütigste aller Babys. Er kennt den Buchstaben Q und möchte dafür von mir mit Nüssen belohnt werden. Wer von euch kannte im Alter von drei Jahren den Buchstaben Q?
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