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Die Reise Nach Petuschki

Titel: Die Reise Nach Petuschki
Autoren: Wenedikt Jerofejew
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kommt der Arbeiter zu mir und legt Rechenschaft ab: an diesem Tag wurde von dem und dem so und so viel getrunken, an jenem so und so viel von dem und dem. Und ich stelle das alles durch ein schönes Diagramm dar, auf Velinpapier mit schwarzer Tusche. Hier könnt ihr euch zum Beispiel an den Meßwerten des Komsomolzen Viktor Totoschkin ergötzen:

     

    Und das hier ist Alexej Blindjajew, Mitglied der KPdSU seit 1936, ein alter abgetakelter Wirsing:
     

    Nun, und das ist euer ergebener Diener, Exbrigadier der Telefonkabel-Montagemannschaft und Autor des Poems »Moskau-Petuschki«:
     

    Das sind doch interessante Linien, nicht wahr? Auch wenn man sie nur ganz oberflächlich betrachtet. Bei dem einen erinnern sie an den Himalaja, an Tirol, die Ölfelder von Baku oder sogar an die Zinnen der Kremlmauer, die ich übrigens nie gesehen habe. Beim ändern sind sie wie eine frühmorgendliche Brise auf dem Kama-Fluß, ein sanftes Plätschern, Wasserperlen im Laternenschein. Und beim dritten wie der Schlag eines stolzen Herzens, Gorkijs Lied vom Sturmvogel, Ajwasowskijs »Neunte Woge«. Und all das, wenn man nur die äußere Form der Linien betrachtet.
    Dem Wißbegierigen (zum Beispiel mir) plaudern diese Linien alles aus, was man über einen Menschen, über das Herz eines Menschen nur ausplaudern kann. Sie verraten alle seine Qualitäten, von den sexuellen bis zu den beruflichen, seine ganzen Schlappen, die beruflichen und die sexuellen. Man kann den Grad seiner Ausgeglichenheit erkennen, seinen Hang zum Verrat und alle Geheimnisse seines Unterbewußtseins, so vorhanden.
    Ich begann nun, das Innenleben meiner vier Hosenscheißer aufmerksam und zielstrebig zu studieren. Aber ich studierte nicht lange. Eines unglückseligen Tages waren sämtliche Diagramme von meinem Schreibtisch verschwunden. Es stellte sich heraus, daß Alexej Blindjajew, dieser Blindgänger, Mitglied der KPdSU seit 1936, an jenem Tag die neue Liste unserer Zielsetzungen im sozialistischen Wettbewerb in die Verwaltung geschickt hatte, wo wir aus Anlaß der bevorstehenden Hundertjahrfeier schworen, im Privatleben stets so zu sein wie am Arbeitsplatz, und aus Dämlichkeit oder im Suff meine persönlichen Diagramme ins gleiche Kuvert gesteckt hatte.
    Kaum hatte ich ihr Verschwinden festgestellt, nahm ich einen Schluck und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Und dort, in der Verwaltung, als sie das Kuvert erhalten hatten, schlugen sie auch die Hände über dem Kopf zusammen, nahmen einen Schluck und kamen am gleichen Tag im Moskwitsch zu unserem Standort angefahren. Was entdeckten sie, als sie in unser Kontor eindrangen? Sie entdeckten nichts, außer Lecha und Stassik. Lecha lag zusammengerollt auf dem Boden und döste, und Stassik kotzte. Nach einer Viertelstunde war alles entschieden: Mein Stern, der für vier Wochen am Himmel aufgegangen war, versank für immer. Die Kreuzigung erfolgt genau dreißig Tage nach der Himmelfahrt. Einen Monat nur von meinem Toulon bis zu meinem St. Helena. Kurz, sie gaben mir den Abschied und setzten an meine Stelle Alexej Blindjajew, diesen ausgedienten Schwachkopf, Mitglied der KPdSU seit 1936. Kaum befördert, wachte der von seinem Lager am Boden auf und verlangte von ihnen einen Rubel — sie gaben ihm keinen. Stassik hatte aufgehört zu kotzen und verlangte auch einen Rubel. Sie gaben auch ihm keinen.
    Sie tranken ein paar Gläser Rotwein, setzten sich wieder in ihren Moskwitsch und fuhren zurück.
    So, und hiermit verkünde ich feierlich: Bis zum Ende meiner Tage werde ich nichts mehr unternehmen, was dazu führen könnte, daß sich meine traurige Erfahrung mit dem Aufstieg wiederholt. Ich bleibe unten, und von unten spucke ich auf eure Leiter des gesellschaftlichen Aufstiegs. Nur ein Arschkriecher könnte auf dieser Leiter emporsteigen oder einer, der hart wie Stahl ist, vom Scheitel bis zur Sohle. Ich jedenfalls nicht.
    Wie dem auch sei — sie haben mich gefeuert. Mich, den beschaulichen Prinzen und Analytiker, der liebevoll die Seelen seiner Völker studiert. Die unten hielten mich nun für einen Streikbrecher und Kollaborateur und die oben für einen Tagedieb mit gestörter Psyche. Die unten wollten mich nicht mehr sehen, und die oben konnten nicht an sich halten vor Lachen, wenn mein Name fiel. »Die oben konnten nicht und die unten wollten nicht.« Was kündet das an, ihr Herren Gelehrten in Lenin, ihr wahren Kenner unserer Geschichtsphilosophie? Ganz richtig, am nächsten Zahltag, und der ist übermorgen,
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