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Die Rache des Samurai

Die Rache des Samurai

Titel: Die Rache des Samurai
Autoren: Laura Joh Rowland
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die zwei Samurai-Schwerter an seiner Schärpe.
    Vielleicht hat der Shōgun eine Aufgabe für mich, ging es ihm durch den Kopf, bei der ich das Versprechen einlösen kann, das ich meinem Vater gegeben habe. Erwartungsvolle Spannung erfüllte ihn. Doch er schob sie beiseite und ermahnte sich, nicht zuviel zu erwarten. Vielleicht wollte der Shōgun ihm lediglich einige Augenblicke seiner kostbaren Zeit gewähren – als Geste der Höflichkeit gegenüber jenem Mann, der ihm das Leben gerettet hatte –, um ihn dann wieder zu vergessen. Dennoch hoffte Sano, daß es anders sein möge.
    Auf dem Weg zum Tor, das vom Übungsgelände zu den inneren Bereichen des Palasts führte, blickte Sano auf die Strohpuppen. Die anderen Männer hatten bereits ihre Pfeile eingesammelt, nur das Geschoß Sanos steckte noch fest. Rasch wandte er den Blick davon ab. Daß sein Pfeil eine Armeslänge vor dem Ziel aus dem Gras ragte, erschien ihm als wenig verheißungsvolles Vorzeichen.

    Eine Heerschar bewaffneter Posten trug Sanos Namen in ihre Wachbücher ein, suchte ihn nach verborgenen Waffen ab und ließ ihn dann durch das eisenbeschlagene Tor, das den Zugang zu den inneren Bereichen des Palasts gewährte. Auf der anderen Seite des Tores folgte Sano einem gewundenen Gehweg, der zwischen zwei parallel verlaufenden steinernen Mauern hindurchführte, auf deren Kronen sich in regelmäßigen Abständen weiß verputzte Wachhäuser befanden. Sano folgte dem Gang um den inneren Bereich des Palastgeländes herum, bis er auf dessen Ostseite gelangte, auf der sich die Gemächer des Shōgun befanden. Der Verlauf des Ganges war der Gestalt des Hügels angepaßt, auf dem sich der Palast von Edo erhob, und verlief leicht ansteigend. Ungefähr alle hundert Schritt gelangte Sano an eine Kontrollstation, wo er jedesmal von Posten durchsucht wurde, bevor diese ihn durch ein weiteres Tor hindurchließen.
    Immer wieder, hinter den Fenstern und Schießscharten eines jeden Wachhauses, konnte Sano Männer erblicken, die auf Posten standen; weitere Wachen patrouillierten über das Palastgelände oder eskortierten Besucher und Beamte. Selbst in Friedenszeiten, da kaum die Gefahr einer Belagerung bestand, bewegte sich niemand unbewacht durch den Palast. An dieses ständige Beobachtetwerden konnte Sano sich einfach nicht gewöhnen. Mitunter erschien es ihm, als wäre der Palast von Edo, trotz all seiner Pracht und Schönheit, ein riesiges Gefängnis.
    Doch an einem Tag wie diesem war der Palast wunderschön. Eine frische Frühlingsbrise wehte von den Bergen herunter und wisperte in den Kiefern, die sich über den Ziegeldächern der Wachhäuser auf den inneren Mauern wiegten. Durch die Fenster in den Außenmauern konnte Sano dann und wann einen Blick auf die Stadt werfen, die sich auf der Ebene unterhalb des Hügels ausbreitete. Ein Gewirr aus blaßgrünem, knospendem Blätterwerk brachte Helligkeit und Leben in das triste Braun dieses riesigen Meeres aus Stroh- und Ziegeldächern. Kirschbäume, die in voller Blüte standen, breiteten sich wie rosafarbene Wolken an den Ufern der vielen Kanäle aus, bildeten breite Streifen aus leuchtenden Farben entlang des schlammigen Flusses und verwandelten die Hügel hinter dem Palast in eine atemberaubende Tuschezeichnung aus Rosa und Grün. Der Duft der Bäume erfüllte die Luft mit einer frischen, flüchtigen Süße. In der Ferne, hoch über der Stadt im Westen, erhob sich der majestätische, schneebedeckte Gipfel des Fujiyama. Sano schritt schneller aus. Die Schönheiten des Palasts konnte er ein andermal genießen. Und vielleicht kam auch irgendwann der Tag, daß er sich in seinen Mauern wohl fühlte.
    »Wartet, Sano- san! «
    Der Ruf, von eiligen Schritten begleitet, erklang in Sanos Rücken. Er drehte sich um und sah Noguchi Motoori, seinen direkten Vorgesetzten, der keuchend und schnaufend über den Gehweg gelaufen kam. Sano wartete; dann verbeugte er sich zum Gruß, als Noguchi ihn erreicht hatte.
    Noguchi, der oberste Archivar des Palasts von Edo, entsprach genau dem Bild, das Sano sich von einem Samurai machte, der sich zum Gelehrten gewandelt hatte. Die weite Hose und der Überrock Noguchis bedeckten einen Leib, der in Ermangelung körperlicher Betätigung schlaff und schwammig geworden war. Die beiden Schwerter an Noguchis Hüfte wirkten wie zwei unnatürliche Auswüchse bei einem so fetten Mann, der in seinen Bewegungen unbeholfen geworden war und keinerlei Neigung mehr besaß, sich auf körperliche
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