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Die Rache des Samurai

Die Rache des Samurai

Titel: Die Rache des Samurai
Autoren: Laura Joh Rowland
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träumte.

1

    I
    m großen, tiefen Teich auf dem militärischen Übungsgelände des Palasts von Edo strampelte Sano Ichirō wild mit den Beinen und versuchte, sich über Wasser zu halten. Die beiden Schwerter und die vollständige Rüstung – Waffenrock und Schulterklappen aus Leder- und Metallplatten, Armschilde aus Kettenpanzer, metallene Beinschienen, Helm und Maske – drohten Sano hinunter auf den Grund des Teichs zu ziehen. In der linken Hand hielt er einen Bogen, in der rechten einen Pfeil. Vor Anstrengung ging sein Atem keuchend, während er versuchte, den Bogen, den Pfeil und seinen Kopf über Wasser zu halten. Um Sano herum schwammen weitere Samurai – auch sie Gefolgsleute des Shōgun Tokugawa Tsunayoshi –, die ebenfalls an dieser morgendlichen Übung teilnahmen, um jene Fertigkeiten zu schulen, die sie benötigten, falls sie jemals in einem Fluß, einem See oder dem Meer Krieg führen mußten. Am gegenüberliegenden Ufer des Teiches fochten Krieger eine Übungsschlacht zu Pferde, wobei die Hufe der Tiere den Schlamm aufwühlten. Eine hohe Welle schwappte über Sanos Kopf hinweg. Das übelriechende Wasser, von Schlick und den Ausscheidungen der Pferde verunreinigt, strömte in Sanos Helm und unter die Gesichtsmaske. Er rang nach Atem, spuckte aus und schaffte es gerade noch, tief Luft zu holen, bevor er von der nächsten Welle überspült wurde.
    »Du da!« rief der sensei vom Ufer des Teiches aus, und eine lange Stange wurde wuchtig auf Sanos Helm geschlagen. »Den Körper gerade, die Beine nach unten! Und halte den Pfeil trocken! Nasse Federn fliegen nicht geradeaus!«
    Sano nahm alle Kraft zusammen und versuchte tapfer, die Befehle zu befolgen. Die Beine schmerzten ihm von den kreisenden Trittbewegungen, die man vollführen mußte, um im Wasser eine aufrechte Körperhaltung zu wahren. Sein linker Arm, vor kurzem bei einem Schwertkampf verwundet, pochte schmerzhaft; dafür war der rechte mittlerweile völlig taub. Jeder qualvolle Atemzug kam ihm wie sein letzter vor. Und ihm war bitterkalt. Das unsichere Frühlingswetter hatte die frostige Kälte noch nicht aus dem Wasser des Teiches vertrieben. Wie lange mag diese Schinderei noch dauern? Um seinen Geist von den körperlichen Qualen abzulenken, schaute Sano blinzelnd empor und ließ den Blick in die Runde schweifen.
    Auf einer Rasenfläche neben dem Teich standen in unregelmäßigen Abständen Strohpuppen von menschlicher Gestalt, die den Bogenschützen als Übungsziele dienten. Zur rechten Seite Sanos ragten die dunkelgrünen Fichten des Fukiage empor, des bewaldeten Parks, der das Gelände im Westen des Palasts einnahm und den Übungsplatz umschloß. Zu seiner Linken konnte Sano die Tribünen der Rennbahn sehen; Rufe, Jubelschreie und Hufgetrommel drangen von dort herüber. Und genau vor ihm ragten in der Ferne die hohen steinernen Mauern auf, welche die inneren Bereiche des Palasts umgaben, wo der Shōgun, dessen Familie und dessen engste Vertraute in prachtvollen Gemächern wohnten und arbeiteten.
    Sano trat kräftiger aus, um den Kopf so weit als möglich über die Wasseroberfläche zu heben. Das strahlende Sonnenlicht verwandelte die Tropfen, die ihm in die Augen gespritzt waren, in funkelnde Edelsteine, die ein deutliches Sehen unmöglich machten. Sano blinzelte die Tropfen fort und legte den Kopf in den Nacken, um hinauf zum Hauptturm des Palasts zu schauen: fünf prachtvolle Geschosse mit weiß verputzten Mauern und ungezählte schimmernde Ziegeldächer und Giebel, die sich vor dem blauen Himmel abhoben. Der Palast von Edo, das sichtbare Zeichen der uneingeschränkten, überwältigenden militärischen Macht der Tokugawa, erfüllte Sano stets aufs neue mit Scheu und Ehrfurcht. Er lebte jetzt seit zwei Monaten in den Mauern des Palasts und konnte immer noch nicht glauben, daß hier nun sein Zuhause war. Noch unglaublicher jedoch erschien ihm die seltsame Kette von Ereignissen, die ihn hierhergeführt hatte.
    Als Sohn eines rōnin – eines herrenlosen Samurai – hatte Sano sich seinen Lebensunterhalt als Lehrer an der väterlichen Schule für Waffenkampf verdient; überdies hatte er die mageren Einkünfte der Familie aufgebessert, indem er Jungen das Lesen und Schreiben lehrte. Dann, vor gerade erst drei Monaten, hatte er durch familiäre Beziehungen das Amt eines yoriki erworben und war einer der fünfzig Polizei-Bezirksvorsteher Edos geworden. Und dann war es Schlag auf Schlag gegangen: Sano hatte sein Amt wieder verloren; er war in
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