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Die Puppe an der Decke

Die Puppe an der Decke

Titel: Die Puppe an der Decke
Autoren: Ingvar Ambjörnsen
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wir uns Fremden gegenüber vorstellten.«
    Sie sah ihn an: »Und das hast du jetzt mehr als zwei Stunden lang vergessen?«
    Er setzte sich gerade. »Manchmal vergesse ich so was wochenlang.«
    »Ich kann dich zu deinem Haus fahren, wenn du willst.«
    »Nein.« Er schaute auf die Uhr. »Um kurz nach halb neun geht ein Bus. Dann kann ich im Piraten noch ein paar Bier trinken. Aber vielen Dank jedenfalls. Ich war schon kurz vor der Auflösung.«
    Vor der Auflösung!
    Ihr war aufgefallen, dass er während der letzten Minuten die Stelle angestarrt hatte, an der früher ihr rechter kleiner Finger gesessen hatte. Wo jetzt der Stumpf war. Und das Seltsame war, dass sie trotzdem angeboten hatte, ihn zu seinem Haus zu fahren. Es war ihre Idee gewesen. Jetzt setzte sie ihn stattdessen am Hafen ab. Reichte ihm sogar zum Abschied die Hand. Die rechte. Die schöne Hand, wie es früher geheißen hatte. Ehe die schöne Hand zur hässlichen Hand geworden war. Danach saß sie noch lange im Wagen und sah zu, wie er über den triefnassen Markt lief, auf die Kneipe zu. Den Rucksack über der Schulter, den Körper im Wind leicht gekrümmt.
    Das Haus lag in einem Garten, die Fenster klafften wie schwarze Löcher. Trotzdem schien die Hülse, die sie früher damit assoziiert hatte, endlos weit weg zu sein. Sie war ein freundliches Bild an ihrer Netzhaut. Ein Strom von guten Erinnerungen stieg in ihr auf, als sie die abgenutzten Bretter sah, die Treppe und das leicht schiefe Dach. Hier, im Haus und im Garten, waren Wunder geschehen. Marienkäfer über weicher Haut. Reife Stachelbeeren. Der Duft gebratener Makrelen und die Großmutter, die sie zum Essen rief. Der Großvater, der danach wie tot auf dem Rücken im Gras lag. Dort, wo sie jetzt stand, am Tor, die Hände voll von Plastiktüten aus dem Supermarkt, hatte sie plötzlich den Geschmack von Sahne auf den Lippen. Sie dachte, das hier sei ein Denkmal, ein Ort, an dem sie über alles, was einst gewesen war, meditieren könne. Hier bin ich so stark geworden, dass ich später, wenn es notwendig wurde, den Stier bei den Hörnern nehmen konnte. Und seltsamerweise werde ich auch hier, ausgerechnet hier, dem Minotaurus gegenübertreten müssen. Das Labyrinth zieht sich unsichtbar kreuz und quer durch diese Stadt. Dieses Haus wird meine Basis sein. Mein Ruheraum. Wie damals. Sie trug Lebensmittel und Gepäck ins Haus.
    In den großen Räumen war es eiskalt. Die Heizkörper im Erdgeschoss und im ersten Stock waren angeschlossen, aber sie konnten doch nur dafür sorgen, dass das Wasser nicht gefror. Sie schaltete im Mädchenzimmer im ersten Stock eine Heizsonne auf die höchste Stufe. Im »Mädchenzimmer«, nach den Mädchen, die in den großen alten Zeiten dort gewohnt hatten, und nach den neuen Mädchen, ihr und Stina. Den Ferienkindern aus Oslo. Sie ging von einem Zimmer ins andere und drehte die Heizkörper so weit auf, wie sie das nur wagte, sie hatte keine Sicherungen mitgebracht. Später schloss sie die Tür zum kleineren Wohnzimmer, dem, das hinter der zum Garten gelegenen Glasveranda lag, und machte in dem großen Kamin aus Speckstein ein Feuer. Sicherungen vergessen, na gut. Aber immerhin hatte sie daran gedacht, vor Ladenschluss den staatlichen Alkoholverkauf in Sandvika anzusteuern. Sechs Flaschen Rotwein. Die waren ja auch eine Art Sicherungen.
    Sie zog den feuchten Sessel dicht vor den Kamin und trank Wein. Sie durfte in der jetzt vor ihr liegenden Zeit nichts vergessen. Vor allem nicht jegliche Art von Sicherungen. Sie bereute, den Tramper mitgenommen zu haben.

3
    Wenn sie nun, in der Grauzone zwischen Schlaf und wachem Zustand, die Linien zurückverfolgte, dann überkam sie ein Gefühl der Macht. Das Gefühl, dass sie warten konnte. Dass die Zeit ihre Verbündete war. Ganz zu Anfang, vor allem in der Zeit vor der Urteilsverkündung, war sie vom Hass geblendet gewesen. Hatte das Gefühl gehabt, die Sache eile. Vielleicht vor allem, weil sie nicht die nötige Tatkraft besessen hatte. Sie wollte, konnte aber nicht. Sie war verheiratet und fühlte sich zu dem Versuch verpflichtet, die Ehe zu retten. Zwei Kinder im Teenageralter, die alles von ihr verlangten – Scheidung hin oder her. Jetzt lag sie im alten Haus ihrer Großeltern in dieser verschlafenen kleinen Stadt und putzte ihre Waffen. Im Mädchenzimmer. Dem Zimmer der Mädchen. Sie war nicht mehr vom Hass geblendet. Die Zeit hatte alles abgeschliffen, sie war kalt geworden, abgekühlt fast. Ihre Ehe war begraben. Die Kinder
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