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Die Puppe an der Decke

Die Puppe an der Decke

Titel: Die Puppe an der Decke
Autoren: Ingvar Ambjörnsen
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standen auf eigenen Beinen. Jeder seither vergangene Tag hatte ihr größere Schlagkraft gegeben. Sie hatte nicht geahnt, dass es so kommen könnte, an jenem Tag vor mehr als fünf Jahren, aber sie wusste jetzt, dass sie die ganze Zeit das Skalpell in die Flammen gehalten hatte.
    Es war kalt im Zimmer. Kein Laut zu hören. Kein Wind, kein Regen, der gegen die Scheibe schlug, nichts. Der Luxus der Stille, sie selber unter der warmen Decke, die Zeiger des Weckers, die sich auf halb zehn zu bewegten. Sie beugte sich aus dem Bett und schaltete die Heizsonne auf dem Boden ein. Das Geräusch des elektrischen Gebläses kam ihr vertraut vor, wiegte sie in den Schlaf. Der Geruch von verbranntem Staub führte sie in die Vergangenheit zurück. Rotglühende Drähte im herbstdunklen Zimmer. Stinas dünne Stimme aus dem anderen Bett. Und wenn uns jetzt etwas passiert, Rebekka. Wenn Oma und Opa sterben. Oder Mutter und Vater.
    Schlaf jetzt. Du wirst erwachsen und dann begegnet dir ein Prinz. Das wird passieren.
    Und du? Begegnet dir auch ein Prinz?
    Das weiß ich nicht. Doch, vielleicht.
    Stinas mageres Hinterteil auf dem Nachttopf. Das Zischen, die Pisse, die gegen das Porzellan prasselte.
    Ich wollte keinem Prinzen begegnen. Ich wollte immer hier sein. So wie jetzt.
    Sie stand erst auf, als das Zimmer mollig warm geworden war. Sie duschte ausgiebig, dann frühstückte sie unten in der altmodischen Küche. Eier. Speck. Schwarzer Kaffee und Toast. Ihr ging auf, dass sie noch nie allein in diesem Raum gewesen war. Und dass es ihr rein gar nichts ausmachte. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Großmutter noch immer am Herd stand und ihr Großvater mit der Zeitung im Sessel vor dem Fenster saß. Stina, das Gesicht halb von ihr fortgewandt, mit über die Tischkante baumelnden Beinen, ein Stück Brot mit Marmelade in der einen Hand, die Puppe in der anderen. Die Neun-Uhr-Nachrichten im Radio, vielleicht auch eine Andacht. Kein Laut.
    Im Garten hatte der Wind alle Blätter von den alten Obstbäumen gefegt. Nur an den Johannisbeersträuchern hing noch hier und dort ein gelbes Blatt an den schwarzen Zweigen. Es roch herb und würzig, und unter ihren Stiefeln gurgelte es. Sie lief durch den Garten und rauchte die erste Zigarette dieses Morgens. Der blaue Drache löste sich in nichts auf. Unter ihr, hinter dem grün überwucherten Bretterzaun, lagen Stadt und Fjord. Sie konnte nasse Dächer sehen, und weiter draußen einen Frachter, der über den schwarzen Wasserspiegel glitt. Zwei Möwen balancierten auf den Windfängern über den Speicherhäusern am Hafen. Auf dem anderen Fjordufer: Nybyen, die Neustadt. Niedrige Villen an den bewaldeten Hängen. Offene Wunden dort, wo das Dynamit den Granit zerfetzt hatte, Baumaterialien, lehmige Böschungen. Eine Neusiedlergesellschaft, wo junge und ältere Menschen sich niedergelassen hatten, Kinder der Stadt und Zugezogene.
    Sie glaubte, dass sie das alte Haus behalten würde. Sie wusste nicht warum, aber etwas am Anblick all dieses Neuen, dieser grauen, weiß und grün gebeizten Wände, der Aussichtsfenster, der Doppelgaragen und Terrassen, machte ihr klar, dass sie das Haus ihrer Großeltern wohl kaum zum Verkauf ausschreiben würde, so lange sie noch aufrecht stehen konnte.
    Danach besuchte sie sie. Sie machte sich am Grab zu schaffen, entfernte zwei tote Stauden und stellte frische Blumen in die Vase vor dem polierten Stein. Plauderte mit ihnen, so wie damals, als sie noch lebten, nur ohne Bewusstsein. Sie hatten sich innerhalb von zwei Wochen verabschiedet, er zuerst, sie bald darauf; sie waren im selben Krankenhauszimmer eingeschlafen. Ein guter Tod. Sie erzählte ihnen, dass Stina sich offenbar nach ihnen sehnte, dass sie sich jedenfalls fort von hier sehnte.
    Als sie die Stadt erreichte, hielt sie am Markt. Am Zeitungskiosk kaufte sie einen Stadtplan und eine Packung weiße Briefumschläge. Fast hätte sie auch die Osloer Zeitungen mitgenommen, riss sich aber zusammen. Sie wollte jetzt hier sein, wollte zu hundert Prozent hier sein; sie nahm stattdessen die Lokalzeitung. Es regnete, als sie den Kiosk verließ. Sie überquerte den Marktplatz und rettete sich ins Fønix, sie war seit zehn Jahren nicht mehr dort gewesen, das alte Hotel verfügte über eine Kombination aus Bar und Bistro mit Aussicht auf den Fjord.
    An einem Fenstertisch beugten zwei Geschäftsmänner sich über Kaffee und Papiere. Ihre Mobiltelefone waren achtlos auf der Fensterbank abgelegt. Die beiden waren außer ihr die einzigen
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