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Die Prophezeiung der Seraphim

Die Prophezeiung der Seraphim

Titel: Die Prophezeiung der Seraphim
Autoren: Mascha Vassena
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Rubens dunkle Rachegedanken wurden unterbrochen, als sie in die Küche zurückkamen, wo sie auf Didier und Henri trafen. Didier saß auf einem Schemel, trank Milchkaffee und schäkerte mit dem Küchenmädchen, sprang aber auf, als er seinen Vater erblickte. Henri wartete an der Tür, schwarz von der Nasenspitze bis zur großen Zehe. Nur seine Zähne blitzten hell, als er Ruben schief anlächelte.
    »Wir sehen aus wie die Mohren«, flüsterte er, aber Ruben konnte nicht darüber lachen.
    So begann ihr neues Leben als Kaminkehrerburschen. Sie schleppten ihrem Meister das Werkzeug hinterher, kletterten in Kamine, zittrig vor Hunger, von Sonnenaufgang bis zum Einbruch der Dunkelheit. Anschließend verkauften sie den Ruß auf der Straße als Dünger für Felder und Gärten. Das Geld mussten sie bei Givret abliefern. Wenn sie nicht verhungern wollten, mussten sie zusehen, woher sie etwas zu essen bekamen. Deshalb klapperten sie abends die kleinen Läden in ihrem Viertel ab und baten um Käse rinden oder Gemüsereste. An Brot wagten sie nicht einmal zu denken, denn ein Laib kostete inzwischen den Tageslohn eines Arbeiters.
    Dem Meister war es nur recht, dass sie hungerten. So blieben sie klein und schmächtig genug, um in die Kamine zu schlüpfen. Oft sprachen Ruben und Henri darüber, abzuhauen, aber Givret hatte ihnen glaubhaft versichert, dass er sie überall aufspüren und ihnen alle Knochen brechen würde. Mitleid kannte er nicht, für ihn waren die beiden nicht mehr als lebendige Kehrbesen. Immer hin war er nicht ganz so brutal wie einige andere Meister. Die trie ben ihren Lehrlingen Nadeln in die Fußsohlen, damit sie schneller in den Kaminen emporkletterten.
    Immer wieder trafen sie auf ihren Bettelzügen andere Kaminkehrerburschen. Es schien Hunderte von ihnen in den Straßen von Paris zu geben, aber niemand achtete auf sie. Wie Ratten drückten sie sich in Winkeln und an Ecken herum, mit rußverschmierten Gesichtern, meistens stumm. Zum Spielen hatten sie nicht genug Kraft, zum Lachen keinen Grund. Es war ein elendes Leben, und Ruben fragte sich, ob er von den Grimauds auch weggegangen wäre, wenn er das geahnt hätte.
    Etwas Schönes gab es nur am Sonntag, ihrem einzigen freien Tag. Dann wuschen sie sich notdürftig an einem öffentlichen Brunnen und gingen zum Kloster der Guten Schwestern. Aus allen Richtungen strömten die Kaminkehrerburschen herbei, denn die Nonnen verteilten Suppe an all diejenigen, die zum Gottesdienst blieben und danach die Sonntagsschule besuchten. Ruben half Henri, Schreiben und Lesen zu lernen, auch wenn sie oft so müde waren, dass sie kaum die Griffel halten konnten.
    Der Jüngere war für Ruben wie ein Bruder geworden – endlich hatte er jemanden, der zu ihm gehörte, und sie schworen sich, einander immer zu helfen und sich niemals zu trennen. Eines Abends zog Henri mit spitzbübischem Grinsen den Anhänger aus der Tasche, den Givret Ruben abgenommen hatte. »Beim Putzen hab’ ich das hier unter dem Bett gefunden«, sagte er und ließ den Anhänger in Rubens Hand gleiten.
    Dessen Finger schlossen sich über dem polierten Stein mit dem darin eingelassenen Kristall. Er passte genau in seine Hand und wurde warm, als wäre er lebendig.
    »Das vergesse ich dir nie.« Ruben umarmte Henri, der ihn verlegen abwehrte.
    »War doch nichts. Aber trag ihn nicht um den Hals, sonst ist er morgen wieder weg.«
    Ruben nickte und ließ den Stein in seine Hosentasche gleiten.
    Nachts, wenn sie auf ihren Strohsäcken lagen, schmiedeten er und Henri kühne Pläne. Henri wollte seiner Mutter und seinen drei Schwestern ein Haus bauen, sollte er als wohlhabender Mann nach Coulours zurückkehren. Dann würden sie nie wieder auf den Feldern arbeiten müssen.
    Insgeheim beneidete Ruben seinen Freund um seine Familie: Wenigstens hatte Henri jemanden, an den er denken konnte, und das half ihm, die Demütigungen und die harte Arbeit zu ertragen.
    Ruben hingegen träumte nicht mehr davon, sich in Paris hochzuarbeiten und etwas aus sich zu machen. In der Stadt wimmelte es von Burschen wie ihm, die für ein paar Sou jede Arbeit übernahmen. Außerdem würde Givret ihn und Henri niemals gehen lassen, solange sie atmeten. Inzwischen wusste er, dass die meisten Kaminkehrerburschen die Arbeit nicht lange überlebten – der Ruß verklebte ihre Lungen und die magere Kost tat das ihrige, die Jungen zu schwächen.
    Ruben war fast ein wenig stolz darauf, dass ihn die Schufterei nicht angriff, auch wenn er sie hasste. Er
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