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Die Pollinger-Kinder und die Piep-Gespenster

Die Pollinger-Kinder und die Piep-Gespenster

Titel: Die Pollinger-Kinder und die Piep-Gespenster
Autoren: Josef Carl Grund
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lehrte das Obergespenst die anderen Geister lesen und schreiben. Überall auf der Erde richtete es Gespensterschulen ein: in Felshöhlen, verlassenen Kellern und verfallenen Burgen. Möbel brauchten die Geister nicht. Sie schwebten in der Luft, während sie die Buchstaben auswendig lernten, und zum Schreiben legten sie sich auf den Fußboden.
    Das Schreiben war eine ganz besonders tolle Erfindung des Obergespenstes. Für die anderen Geister wäre das Buchstabenmalen mit dem unteren Ende viel zu schwierig gewesen. Deshalb brachte ihnen das Obergespenst die Gucklochschreibe bei.
    „Ihr müßt das linke Guckloch schließen und das rechte so weit zukneifen, daß die Öffnung nicht größer als eine Griffelspitze ist“, erklärte das Obergespenst. „Durch diese Öffnung denkt ihr dann ganz fest die Buchstaben hindurch, die ihr schreiben möchtet.“
    Das Obergespenst machte es an der Wandtafel vor. Auf der polierten Schieferfläche erschien das Abc in leuchtendem Rot.
    Die anderen Geister probierten es auf dem Fußboden und freuten sich, daß es auch ihnen gelang. Das Gucklochschreiben machte Spaß.
    Wollten die Gespenster das Geschriebene wieder auslöschen, so brauchten sie nur das rechte Guckloch zu schließen und mit dem linken die Schrift anzusehen. Dann verschwand diese spurlos.
    Als die meisten Geister lesen und schreiben konnten, wurde das Obergespenst Schriftsteller. Es dachte alles, was es wußte, in Gucklochschrift auf Nebelstreifen und klebte diese mit Geisterspucke zu Lehrbüchern zusammen. Alles, was da geschrieben stand, mußten die anderen Gespenster siebenmal abschreiben und dann auch noch auswendig lernen.
    Mit der Zeit wurden aus den klügsten Schülern des Obergespenstes selbst wieder Lehrer. Sie brachten neuen Schülern Lesen und Schreiben bei und ließen die Gespenster-Kinder in den Gespenster-Schulen die schönen alten Gespenster-Märchen zusammenbuchstabieren.
    Da übergab das uralte Obergespenst einem jüngeren Nachfolger die Schatztruhe mit den Buchstaben-Täfelchen und vertraute ihm die Geheimsprüche an, mit denen die Vorhängeschlösser auf- und zugemacht werden konnten. Dann zog es sich in das Gespenster-Altersheim auf dem Jupiter zurück, um von irdischer Plage auszuruhen.
    Mit der Truhe und den Täfelchen darin hatte es eine besondere Bewandtnis: Weil die Buchstaben von einem Gespenst erdacht worden waren, steckte gespenstisches Leben in ihnen. Sooft ein Geist z. B. den Laut „A“ aussprach oder den Buchstaben „A“ in Gucklochschrift niederschrieb, wurde das „A“ in der Truhe ein bißchen kleiner, kaum merklich zwar, aber immerhin. So geschah es auch mit den anderen Buchstaben. Und da sehr viele Geister sprachen, lasen und schrieben, nahmen die Zauberbuchstaben sehr deutlich ab. Deshalb mußte die Truhe in jeder Vollmondnacht von vierundzwanzig Uhr bis ein Uhr geöffnet werden. Sobald der Vollmond die Buchstaben auf den Täfelchen beschien, wuchsen sie wieder zu voller Größe und reichten für einen neuen Monat aus.
    „Sollte ein Buchstabe durch zuviel Gebrauch völlig verschwinden, so bekommt ihr ihn nicht wieder, und ihr könntet ihn nie mehr aussprechen und niederschreiben“, hatte das uralte Obergespenst die Geister gewarnt. „Geht also sparsam mit Wort und Schrift um, und redet und schreibt nichts Unnötiges.“
    Die Gespenster hatten sich daran gehalten und waren mit ihrem Buchstabenschatz gut ausgekommen.
    Bis vor kurzem.
    Das war vor einem Monat gewesen, in einer Vollmondnacht.
    Zu Beginn der Geisterstunde hatten zwei Wachgespenster die Buchstabentruhe vor die Höhle geschafft und waren zur Seite geflattert, weil sie den Zauberspruch nicht hören durften. Den sagte das neue Obergespenst dann ganz leise:
     
    „Hört auf eures Meisters Stimm’:
    Tut euch auf — Simsalabim!“
     
    Klick-klick hatten die Vorhängeschlösser gemacht, und der Truhendeckel war aufgesprungen.
    Die Wachgespenster flatterten wieder heran und stellten sich zu beiden Seiten der Schatzkiste auf. Das Obergespenst schwebte in die Höhle zurück, um ein neues Nebel-Lesebuch auszudenken.
    Die kostbaren Buchstaben in der Truhe wuchsen im Vollmondschimmer.
    Es war eine Vollmondnacht wie viele andere, und nichts deutete darauf hin, daß bald Schreckliches geschehen würde. Die Wachgespenster waren sorglos.
    Etwa zehn Minuten nach Beginn der Geisterstunde schwebte mit lautlosen Flügelschlägen ein Uhu heran, setzte sich auf den obersten Ast der Wettertanne, die über der Gespensterhöhle aufragte,
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