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Die Pelzhändlerin (1. Teil)

Die Pelzhändlerin (1. Teil)

Titel: Die Pelzhändlerin (1. Teil)
Autoren: Ines Thorn
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winzige Kammer bewohnte, diente im Erdgeschoss einer sechsköpfigen Besenbinderfamilie als Küche, Wohn- und Schlafraum gleichzeitig. Nachts und im Winter kamen noch die Hühner und ein mageres Schwein dazu. Ratten huschten lautlos über den Boden, Fliegen und anderes Ungeziefer schwirrten durch die stickige Luft des Raumes.
    Über eine schmale, wackelige Stiege, die eher einer Hühnerleiter glich, gelangte Martha zu ihrer Kammer. Sie seufzte, denn das Hochsteigen bereitete ihr nach dem langen Tag Mühe und Schmerzen.
    Der Arzt war erst am Nachmittag zum Wöhler’schen Haus gekommen und hatte, nachdem er nur einen flüchtigen Blick auf den Meister geworfen hatte, den Totenschein ausgestellt. Danach war der jüngere Geselle zum Sargtischler gelaufen, der Ältere hatte der Zunft Bescheid gegeben, und die Magd war gegangen, die Leichenwäscherin zu holen. Martha aber hatte sich freiwillig erboten, den Brief an das Kloster Engelthal, den der Junggeselle geschrieben und laut vorgelesen hatte und der Sibylla vom Ableben ihres Vaters in Kenntnis setzte, einem Boten zu übergeben.
    Es war ihr nicht wohl dabei, denn sie allein wusste, dass der Brief überflüssig war. Doch der Gedanke, der ihr mitten auf der Straße im Menschengewühl gekommen war, hatte sich in ihr festgesetzt. So trug sie sowohl den Brief vom Kloster als auch den zweiten Brief an Sibylla in ihrer Kitteltasche mit sich herum.
    Es hat ja keine Eile damit, hatte sie sich getröstet, die beiden waren schließlich tot. Ob die Nachrichten einen Tag früher oder später ankamen, machte nichts aus.
    Schwer ließ sie sich auf einen hölzernen Schemel fallen, stützte beide Ellbogen auf den wackeligen Holztisch und vergrub das Gesicht in den Händen.
    Der Mond schien silbrig und kalt durch einen Riss in der mit Lumpen verhängten Dachluke, die die Nachtfröste nur ungenügend abhalten konnten, doch Martha bemerkte es nicht. Sie hörte auch das Rascheln der Mäuse nicht, mit denen sie ihr Strohlager teilte.
    Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem tollkühnen Einfall vom Mittag.
    Nein, dachte sie, nein, es war ganz und gar unmöglich, auch nur daran zu denken, Luisa als Sibylla in das Kürschnerhaus zu schicken. Betrug wäre es, der schlimmste Betrug, der sich denken ließ. So schlimm, dass er sie beide auf den Scheiterhaufen oder an den Galgen brächte, käme er heraus. Und danach wäre ihnen das ewige Fegefeuer gewiss. Gott hatte sie an den Platz gestellt, der ihnen gebührte. Und ein Mensch sollte daran nicht rütteln. Sie durfte nicht weiter darüber nachdenken, sondern sollte endlich aufstehen, sich ausziehen, schlafen legen und morgen früh als Erstes in die Kirche gehen, um ihre sündigen Gedanken zu beichten und Vergebung dafür zu erbitten.
    Doch Martha stand nicht auf. Sie blieb sitzen, und auch die Gedanken ließen sich nicht verscheuchen. Ich werde sicher bald sterben, dachte sie, ich sehe es an meinen Händen, die denen von Toten fast gleichen, wären die schwärenden Wunden nicht. Eiter und aufgequollenes, zuckendes Fleisch die einzigen Anzeichen von Leben, dass sie noch einer Lebenden gehörten.
    Und Luisa? Wie lange würde sie in dem Feldsiechenhaus überleben? Gab es ein trostloseres Leben als das einer Wäscherin im Feldsiechenhaus?
    «Aber es ist ein ehrliches Leben!»
    Martha hatte nicht bemerkt, dass sie laut gesprochen hatte.
    «Ein ehrliches Leben, ja!», murmelte sie, wieder leiser werdend. «Doch wem nützt die Ehrlichkeit? Wird der belohnt, der am ehrlichsten ist? Wird man so Handwerksmeister? Meisterstochter?»
    Sie hob den Kopf, starrte vor sich und fuhr, ohne es zu merken, mit dem Finger über die Astlöcher in der Tischplatte.
    «Dem Ehrlichen gebührt das Himmelreich. Aber warum muss er dafür auf Erden durch die Hölle gehen? Ist das Gottes Gerechtigkeit? Eine Gerechtigkeit, die denen den besten Platz im Paradies verspricht, die den Himmel schon auf Erden und Geld für die Stiftung von Altären haben?»
    Sie dachte dabei an Luisas Vater, einen heute angesehenen Handwerksmeister, der sie damals so schmählich und in Schande hatte sitzen lassen und sich niemals auch nur mit einem Wort nach seiner Tochter erkundigt hatte, geschweige denn, das Seine zu tun, damit wenigstens Luisa das harte Leben einer Wäscherin erspart bliebe. Und sie dachte dabei an den Ruf, der ihrer Berufsgruppe vorauseilte. Viele Bürger machten die Wäscherinnen für die zahlreichen Pestepidemien in den letzten Jahren, die Hunderte von Todesopfern gefordert hatten,
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