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Die Patin

Die Patin

Titel: Die Patin
Autoren: Gertrud Höhler
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der CDU geht weiter. Noch einmal probiert die Chefin die traditionelle C-Botschaft aus: Das Jahrhundert der Christdemokraten stehe am Horizont.
    «Ich bin der festen Überzeugung, dass wir vor einem christdemokratischen Zeitalter stehen», meldet die Parteichefin am 4. Oktober 2002. Nach einer Präsidiumssitzung greift sie voll in das Traditionsvokabular der alten CDU. Journalisten protokollieren diesen Auftritt: ‹Die Union müsse mehr zu denen gehen, die uns noch nicht ausreichend zuhören›, umschrieb sie wolkig den Marsch zum Säkulum der Union. Sicherheit, Eigenverantwortung und Geborgenheit seien konservative Werte, für die die CDU stehe und die gerade in Zeiten des Wandels gefragt seien. Doch müssten diese immer wieder überprüft werden – genauso wie die drei Wurzeln, die Merkel unter der Frage «Was ist christdemokratisch» benannte: «sozial, liberal, christlich». 42 Es ist einer jener Auftritte, die bei vielen Mitgliedern der Partei für Erleichterung sorgen: Da sind sie ja noch, die altvertrauten Bekenntnisse: Das klingt in den Ohren besorgter Beobachter der Vorsitzenden besser als die Formel von der «modernsten Volkspartei Europas», ein Ziel, in dem jede Wertangabe fehlt. «Modern» ist eben nicht zwangsläufig sozial, liberal und christlich.
    Merkel ist nicht mit Bekenntnissen beschäftigt, wenn sie die Werte-Trias sozial, liberal, christlich zitiert. Sie tut das nicht besonders häufig. Der Zweck ist immer, ein Balancespiel im Gleichgewicht zu halten, das für die letzte Etappe der Testfahrt im Themenpark der CDU genau die richtige Mischung aus vertrauten und neuen Botschaften liefert.
    Dafür nimmt sie sogar Lieblingsbegriffe ihrer schärfsten Kritiker auf wie Jörg Schönbohms ernste Mahnung zum ‹Tafelsilber›, die freilich weniger höfische Anklänge meint als das nie zur Disposition stehende Basislager an Werten, das keiner ‹Modernisierung› zum Opfer fallen dürfe.
    Merkel weiß, wie ernst diese Warnungen zu nehmen sind – noch. Wenige Jahre später wird sie selbst ihre Höflinge ausschwärmen lassen, um die konservative Melodie entschieden zurückzudrängen. Noch ist es zu früh dafür, das weiß sie. Noch liefert sie einen Mix aus Anpassung und Wiedererkennbarkeit der überlieferten Parteidoktrin, mit der sie siegen will. Sie ist Beobachterin, immer noch, und das ist ihre Erfolgsgarantie. Sie ist nicht verstrickt in die Parteiengeschichte wie alle ihre Kollegen. Die Partei ist nicht in ihrem Herzen, sie ist in ihrem Kopf. Sie schwimmt nicht mit, sie begleitet den Geleitzug am Ufer. Ein Bild aus der Welt der Flößer an der Wolga wäre ihr vielleicht vertraut: die Männer auf den Flößen im Strom, und die Mannschaften am Ufer, die den Kurs der Baumstämme mit Seilen sichern.
    Das ist eine wortkarge Welt, in der Sehnsüchte nach Geborgenheit nur nachts durch die Köpfe wandern. Merkel hat viel von dieser Welt verstanden, aber danach fragt hier niemand. Ihr Führungskonzept, über das sie so gut wie niemals redet, hat viel von dieser männlichen Welt aufgenommen. Im Herbst 2002, weit weg von den Brudervölkern ihrer Kindheit, muss sie brüderlich reden mit denen, die wie Jörg Schönbohm Generäle in dem Krieg waren, der auch Angela Merkels Leben entscheidend geprägt hat. ‹Ihr sei daran gelegen›, sagt sie im Oktober 2002 nach verlorener Wahl, das «konservative Tafelsilber in vollem Glanz» erscheinen zu lassen. Sie fügt aber auch ausdrücklich hinzu, das heiße auch, dass «das liberale und soziale Tafelsilber gepflegt werden muss». 43 Konservativ, sozial und liberal, da ist das Christliche schon wieder wegrationalisiert. Das liberale Tafelsilber, so wissen wir inzwischen, erlitt das gleiche Schicksal dann, als der pflegliche Umgang mit diesem hohen Gut Regierungsprogramm geworden war, ab 2009. Einen ernsthaften Verlustkommentar für das verlorene oder vernachlässigte Tafelsilber gab es nicht. Es ging wie mit allen Projekten, die als Testfahrt angelegt waren, nicht als Credo. Nachrufe von Regierungsseite wurden nicht geliefert. Was sich von selbst erledigt, muss man nicht kommentieren, wird die Kanzlerin denken. Dass ein Deutschland ohne Liberale in eine Balance-störungdriftet, hat der Führungskreis der CDU noch nicht wahrgenommen; oder es gibt Gründe, die Debatte darüber nicht freizugeben.
    Das ‹christdemokratische Zeitalter› ist einer von vielen Versuchsballons gewesen, die so taktisch wie das ‹Tafelsilber› Reverenzen an eine CDU austeilten, die schon nicht
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