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Die Patin

Die Patin

Titel: Die Patin
Autoren: Gertrud Höhler
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überdeutlich den kardinalen Unterschied zwischen dem, was Westpolitiker als Motiv zum Einsatz für ihre Partei nennen würden: Die Ideen müssen passen, die Überzeugungen müssen mit meinen übereinstimmen, die Ziele für das Gemeinwesen, in dem die Partei arbeitet und mit anderen Parteien konkurriert, sollten zu meinen Zielen für dieses Land und seine Menschen passen.
    Angela Merkel hat von Anfang an eine gemischte Motivation. Einerseits will sie in der Partei als Aufsteigerin erfolgreich bleiben. Dafür ist es förderlich, wenn sie den Kollegen zeigt: Eure Ideen könnten auch die meinen sein. Die Kausalität ist also genau umgekehrt wie im Normalfall, der lauten würde: Die Ideen der Partei gefallen mir und könnten meine werden. Also arbeite ich hier mit und steige auf, wenn ich die Mitspieler überzeuge, dass sie mich brauchen.
    Es ist genau diese Umkehrung der Motive, die der Newcomerin eine Art Überlegenheit verschafft, die ihre Kollegen als exotisch empfinden – oder zumindest als nie gesehen. Die Neue hat weniger Stress, das spüren die meisten. Sie geht kühler als die Westmitglieder mit Wertfragen und Dogmen um. Wieder fällt einem Eppelmann ein: Angela hat sich die Glaubenskämpfe drüben einfach erspart. Ein Déjà-vu auch hier. Ihre neuen Kollegen bei der gesamtdeutschen CDU beobachten: Sie scheint brennende Wertfragen überhaupt nicht zu kennen. Stattdessen relativiert sie ständig: Wenn du dazu eine Position einnehmen willst, dann kann sie heute so und morgen so sein, je nach Beleuchtung, Temperatur und Kraftfeld, in denen die Fakten erscheinen, so kann Angela Merkel gelassen erklären – fast ein bisschen genervt, weil es doch so selbstverständlich ist. So selbstverständlich, dass sie eigentlich nie darüber spricht: disponibel bleiben ist wichtig, nie vorauseilend Urteile fällen, die man dirspäter vorhält, niemandem ein Versprechen geben, an das er dich morgen oder viel später erinnern wird, wenn es für dich nicht mehr passt. «Hab ich das gesagt?» fragt Angela Merkel immer mal wieder Journalisten, die ihr ein Zitat vorlegen. Bleiben die Fragestellter bei dem gezeigten Wortlaut, dann liefert Merkel eine neue Variante, die jetzt besser passt. «War ich dort?» fragt sie ebenfalls oft, wenn jemand das belegen kann. «Wenn die andern das sagen, dann werde ich wohl dort gewesen sein.» Sie möchte nur ausdrücken, dass es sie überhaupt nicht mehr interessiert. Damit ist das Gewicht aus der Frage rausgeblasen wie die Luft aus dem Luftballon.
    Die junge Aufsteigerin hat häufig andere Prioritäten im Kopf als ihre Mitstreiter. Aber seit Anfang des neuen Jahrtausends beherrscht sie die Hauptvokabeln. Ihre Aufmerksamkeit für die Glaubenssätze der Partei ist jedoch nie so groß wie jene für die Konstellationen von Bewerbern für Ämter, die auf der nächsthöheren Ebene liegen, wo sie selbst morgen Platz nehmen will. Nachdem die Standards ihr bekannt sind, mit denen die CDU im Markt der politischen Überzeugungen auftritt, sucht Angela Merkel ein neues Testgelände auf, das sie braucht, um Gegner zu testen und zu überholen und um die Masse der Parteifunktionäre in ganz Deutschland für spätere Kandidaturen auf ihre Seite zu ziehen.
    Nach der verlorenen Wahl 2002 muss eine kernige Botschaft auf den großen Foren der Verlierer vertreten werden. Zwei Niederlagen in Folge reichen. Merkel überrascht mit einer These, die zu ihrem moderat-unverbindlichen Themenmix nicht passen will. Die polarisierende Verschärfung ihrer Botschaft wird sie erneut benutzen, wenn es um den endlich kleinformatigen, mit der FDP als Juniorpartner vorgesehenen Wahlsieg von 2009 geht. Auch da trägt sie Thesen vor, die nur sehr bedingt zu ihren eigenen Einsichten passen. 2002 schon hat sie die Heraufkunft eines «christdemokratischen Zeitalters» angekündigt. Ein gewisser Überraschungseffekt kann bei dieser Botschaft nicht ausbleiben, weil das ‹Christdemokratische›, schon gar im Jahrhundertformat, nicht zu Merkels Kernwortschatz gehört. Aber jetzt geht es um die Wiedererkennbarkeit der Partei in ihren traditionellen Klischees, und die Vorsitzende liefert – zumindest auf den großen Bühnen.
    CDU und CSU, so Merkels ergänzender Slogan, sind der «Reformmotor», der das Land nach vorn bringt. Auf dem Parteitag 2003 scheint die Chefin endlich voll im CDU-Werbetext angekommen, und der Jubel in der Tagungshalle ist deshalb so groß, weil die spröde Fremde endlich die Sprache der Partei gelernt zu haben scheint.
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