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Die Oder Ich

Titel: Die Oder Ich
Autoren: Wilfried Eggers
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»Große Not! Ratunku, ratunku!«
    »Und idsch do diabwa?«, fragte Schlüter. »Ist das auch polnisch vielleicht?«
    »Idż do diabła? Fahr zur Hölle! Fahr zum Teufel!«
    »Mhh«, machte Schlüter. »Ist das ein Zauberspruch?«
    Er bekam keine Antwort. Die alte Stachowiak verschwand in der Küche und brachte eine neue Flasche.
    Wodka ist ein mächtiger Freund, er besiegt alle Feinde der Konversation, das niedergeschlagene Gespräch erhob sich angezählt bei neun, und nachdem Rathjens seine Privatflasche geleert hatte, begann die alte Stachowiak endlich, wie angekündigt, ihre Produktion auf den Tisch zu schaffen, ein Dutzend Teller und Schüsseln mit Würsten: schmale dunkle, bleiche dicke, gekettete, braune fette, grün und braun gesprenkelte, fingerkurze, ellbogenlange, trockenharte, fettigweiche, in Scheiben geschnittene, rohe und geräucherte. In einem Korb grobes Brot.
    »Smacznego«, rief die Gastgeberin mit heller Greisenstimme.
    Rahtjens griff zu, schob sich eine bleiche Wurst in den Rachen, goss Wodka darauf und würgte alles hinunter. Schlüter nahm sich eine kleine Kabanossi und knabberte. Und trank auch einen Schluck. Was blieb einem übrig. Es wäre Zeit zum Aufbruch gewesen, aber schließlich konnte man die Leute nicht mit diesem Ungeheuer allein lassen. Christa stieß ihrem Mann in die Hüfte, versuchte ein aufmunterndes Lächeln und trank ihm zu. Weitermachen, als wäre nichts gewesen.
    »Wo is Horschi denn?«, lallte Rathjens plötzlich.
    »Wo er immer ist«, antwortete Stachowiak. Er schien bei nüchterner Konstitution.
    »Hebbt ji em nich inbööd?«
    »Wie bitte?«
    »Habt ihr ihn nicht eingeladen?!?«
    »Ween?«, fragte Schlüter.
    »Horschi, wen denn sonst!«, grölte Rathjens und erhob sich schwerfällig. »Horschi Kurbjuweit! Denn hol ick em eben!«
    Er blieb stehen und schwankte. »He schall mit uus fieern!«, verlangte er.
    Sie hörten sein alkoholisches Pusten.
    »Miin ole Fründ Horschi …«, griente Rathjens und war fort.
    Schlüter sog die Luft tief ein und konzentrierte sich. »Wo wohnt dieser Kurb-, Kurbjuweit?«, fragte er.
    »Unter uns, direkt unter uns, das ist es ja«, antwortete die alte Stachowiak.
    Oben aus der Polenwohnung kommt Tag und Nacht Lärm … Schlüter zerrte seinen linken Ärmel hoch. Aber er sah vier Zeiger und konnte nicht schlau daraus werden. »Wie …, o Mann, o Mann, wie – schschpäät isses?«
    »Zehn«, sagte Stachowiak mit einem Blick auf die Uhr.
    »Zeehn. Soo, soo. Zeehn.«
    Die Wohnungstür krachte ins Schloss.
    »Zehn? Um zehn! Um Gottes willen!« Schlüter stemmte sich aus dem Zweier. Christa hielt ihn fest, aber er schüttelte sie trotz seines Schwindels mit erstaunlicher Präzision ab, genau an der Scheide zwischen zart und hart. »Ich muss mal … eben …«
    Schreie auf dem Laubengang. Zwei Männerstimmen.
    »Liebster, pass auf!«, hörte Schlüter hinter sich. Das war das Letzte, an das er sich später erinnern konnte.
    Im Wohnzimmer hörten sie wieder Schreie, drei Männerstimmen, eine davon Schlüters, und plötzlich das gewaltige Dröhnen eines Schusses. Tumult brach aus. Die vier Polen sprangen gleichzeitig auf, die Gläser fielen vom Tisch, die Würste hüpften von den Tellern, aber der alte Stachowiak war trotz seiner Gebrechlichkeit der Schnellste und schon im Flur, während seine Frau wohl noch in der Küche war, vermutlich um Nachschub zu holen.
    »Nicht!«, schrie Sigismund, umklammerte Christa ohne jede Höflichkeit und riss sie von der Wohnzimmertür fort. Gleichzeitig redete er auf Polnisch auf seine Gefährten ein, bis er Christa plötzlich fahren ließ und dem Alten nachstürzte.
    »Lass mich!«, schrie Christa. Sie hatte den Flur erreicht, aber Gregor oder Wlodi oder Wladi hielt sie fest.
    Wieder ein Schuss und noch einer, ein Schrei und noch ein Schuss.
    »Zgasią wszyskie światła«, brüllte Sigismund. »Macht alle Lichter aus!«
    Plötzlich war es stockfinster und totenstill. Der Geruch von Schießpulver strömte in die Wohnung. Sigismund zischte eindringliche polnische Worte. Ein Mensch stöhnte. Christa kämpfte gegen Arme, die sie fest umklammert hielten. »Warten müssen«, zischte Gregor oder Wlodi oder Wladi ihr ins Ohr. »Muss so sein!«
    Ein weiterer Schuss dröhnte.
    »Psa krew! {26} «, fluchte Sigismund. »Cholera jasna! {27} «
    Wlodi oder Gregor oder Wladi zerrte Christa zurück ins Wohnzimmer, sie stürzten rückwärts über einen der Sessel, sie lag auf dem Teppich, die Hand des Mannes auf ihrem
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