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Die Nordischen Sagen

Die Nordischen Sagen

Titel: Die Nordischen Sagen
Autoren: Katharina Neuschaefer
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Wurzel Yggdrasils.
    Hel reitet ohne Sattel und Zaumzeug, sie lenkt das Pferd mit ihren Gedanken.
    Auch jetzt hatte sie es zu sich gerufen, ohne ein Wort zu sprechen. Sie stieg auf und breitete sorgsam den weiten Mantel um ihren dürren Körper. Die Kapuze zog sie tief ins Gesicht. Schweigend ritt Hel durch ihre unterirdischen Hallen, vorbei an all den Gestorbenen. An Mördern und Verrätern, aber auch an all jenen, die Krankheit und Alter zu ihren Untertanen gemacht haben. Hier in der Unterwelt gibt es keine Helden. Es gibt nur Opfer und Verbrecher.
    Die Göttin durchquerte eine Felsgrotte, die voll giftiger Schlangen war, einen ganz und gar schwarzen Saal, Räume voller Geister und gequälter Seelen, und schließlich gelangte sie an die Pforte ihres Reiches.
    Ein lang gezogenes Heulen ertönte, als sie sich dem Ausgang näherte, und Helhesten begann zu scheuen. Aus der Dunkelheit kamen vier glutrote Punkte auf Ross und Reiterin zu.
    »Still, Garm!«
    Hels Stimme war nicht mehr als ein heiseres Flüstern. Doch sofort legte sich der Höllenhund zu ihren Füßen und verstummte. Während Garm seine Herrin unentwegt mit seinen vier Augen fixierte, ritt sie lautlos an ihm vorbei und auf die Brücke zu, die das Totenreich mit der Welt der Lebenden verband.

    Hel hatte Gjöll, den Jenseitsfluss, schon oft überquert, diesmal aber war es anders. Stumm trieb sie Helhesten zur Eile an. Sie kauerte mehr, als dass sie saß, und beugte den Kopf über die Mähne des fahlen Pferdes. Doch Helhesten spürte die Macht der Göttin und wieherte, und es klang, als würde der Sturm ächzen.Schließlich erreichten sie das Ziel. Eine Lichtung in einem Wald aus toten Bäumen, weit im Norden Niflheims und im Schatten eines schwarzen Gebirges. Hier hatten sich alle versammelt, alle, die in den Krieg gegen die Götter Asgards ziehen würden. Trolle und Nachtalben, boshafte Zwerge und das Heer der Reifriesen. Es war laut auf der Lichtung, denn die Riesen hatten angefangen, Kampflieder zu singen, und sie stampften dazu mit gewaltigen Keulen auf den Boden, dass sich der Schnee unter ihren Füssen schmutzig färbte.
    Einige Geschöpfe zischten, andere heulten oder fluchten. Doch kaum humpelte das fahle Pferd in ihre Mitte, verstummte der Lärm.
    »Bald«, flüsterte Hel, »bald werdet ihr das Blut bekommen, nach dem ihr dürstet. Bald werdet ihr Götterhäupter spalten. Wir warten noch, bis die drei Hähne gekräht haben, dann marschieren wir nach Asgard. Mein geliebter Vater Loki und meine Geschwister Fenrir und Jörmungand werden zu uns stoßen.«
    Niemand sah Hels Augen unter der Kapuze, dennoch zuckten alle Kreaturen unter ihrem Blick.
    »Nidhöggr wird sein Werk bald vollendet haben.«
    Das Flüstern der Totengöttin wurde immer schneller und eindringlicher.
    »Der Baum ist nicht mehr zu retten, der Wolf wird sich losreißen, und überall wird Verwüstung sein.« Und Hel kreischte: »Tod, Tod, Tod, und der Leichendrache wird fliegen.«
    Dann lachte sie, doch es klang wie das Husten einer Schwerkranken.Über die Hügel von Midgard fegte ein schneidender Wind, und auch wenn die Sonne nur noch kraftlos von ihrem Himmelswagen aus auf die Welten sah, wirkte das milchige Tageslicht doch tröstlich.
    Aus der Ferne ertönte das Heulen. Erst war es kaum zu erkennen, dann wurde es immer klarer. Ein grauer Wolf jagte über den Himmel, direkt auf die trübe Sonne zu. Sköll, der Wolf, von dem es hieß, dass er die Sonne verschlingen würde. Je näher er kam, desto größer wurde er. Er rannte über die Wolken dahin, unaufhaltsam und schrecklich. Fast hatte er die Sonne eingeholt, die schon so langsam und so schwach war. Da erschien auch sein Bruder Hati am Horizont und setzte dem Mond nach.
    In diesem Augenblick erreichte Sköll die Sonne, er sperrte seinen gigantischen Kiefer auf und riß ein Stück aus der Scheibe heraus, und der Himmel färbte sich blutrot. Wieder schnappte er zu, und das Tageslicht verblasste. Nun erreichte auch Hati den Mond, packte und verschlang ihn. In der letzten Dämmerung hoben sich noch einmal die Silhouetten der Bestien gegen den Himmel ab, dann brach die Nacht herein, und vom Himmel regneten die Sterne wie tausend Leuchtpunkte.
    Die Sonne und der Mond waren verloschen, und die Ordnung der Welten geriet aus den Fugen.
    Während die Sterne aus ihren Bahnen geschleudert wurden, begannen auch die Gebirge zu wanken. Ganze Felswände fielen in sich zusammen, es knirschte und donnerte. Und wo zuvor blühende Ebenen waren, öffneten
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