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Die Nomadengott-Saga 01 - Der Nomadengott

Die Nomadengott-Saga 01 - Der Nomadengott

Titel: Die Nomadengott-Saga 01 - Der Nomadengott
Autoren: Gerd Scherm
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Lebensraum, das Zentrum seines Seins, und nun würde er es bald verlassen. Verlassen müssen, denn er wäre liebend gern geblieben.
    Im Zimmer nebenan war er vor achtundzwanzig Jahren geboren worden, dort war er aufgewachsen und war dann im Alter von zwölf Jahren in diesen Raum gewechselt, um bei seinem Vater Sesh in die Lehre zu gehen. So wurde Seshmosis, der Sohn des Schreibers Sesh, auch ein Schreiber, was sonst?
    Er überblickte sein kleines Reich: das Regal mit ungezählten, aber wohl bekannten Papyrusrollen, der Tisch mit den Schreibutensilien, der Stuhl, auf dem er die meisten seiner Tage und viele seiner Nächte verbracht hatte.
    Es war nicht viel, was er sein Eigen nennen konnte, und kaum etwas davon besaß mehr als nur immateriellen Wert. Die kleine silberne Mondbarke der Göttin Nut vielleicht, das Pavianfigürchen des Gottes Toth aus Elfenbein und der Skarabäus aus grünem Schmelzglas waren die einzigen Gegenstände, die auf dem Markt vielleicht Interessenten gefunden hätten. Aber es würde sich nicht lohnen, sie anzubieten. Zu gering der Ertrag, zu groß der persönliche Verlust. Er beschloss, sie als Erinnerung an sein jetziges Leben, das bald sein früheres sein würde, mitzunehmen.
    Seshmosis spürte, wie der Schmerz langsam in seinem Inneren hochkroch und sich in seinen Gedanken breit machte. Der Abschied ist ein lautloses Tier mit spitzen Krallen, das urplötzlich seinen gewaltigen Rachen aufreißt und einen verschlingt.
    Gerade eben hatte das lautlose Tier Seshmosis verschlungen, und er begann zu weinen.
    Seine Fantasie gaukelte ihm vor, was alles noch geschehen würde, wenn er bliebe.
    Zum Stadtschreiber würde man ihn ernennen. Eine hübsche junge Frau würde er kennen lernen und ihr in Atums Abendsonne seine Liebe gestehen. Die Göttinnen der Nacht würden ihm die Ekstase schenken und seiner Frau Kinder. Mindestens eines davon würde ein echter Sesh sein, ein echter Schreiber, und er würde ihn ausbilden und zum besten Schreiber Oberägyptens machen. Je mehr Seshmosis sich in seine künftige Biografie in Theben hineinsteigerte, desto größer wurde der Verlust, den er empfand. Dies alles musste er aufgeben, all die wunderbaren Dinge, die er überhaupt nicht besaß.
    Doch nicht nur in der kleinen Schreibstube von Seshmosis hatte der Abschiedsschmerz Einzug gehalten. Aram, der Bademeister, war ein Mensch mit einem komplexen Innenleben, das sich einem erst erschloss, wenn man ihn näher kennen lernte, das heißt, wenn man ihn kannte, wusste man, welche Komplexe er hatte.
    Groß und hager stand er nun am Rand des Kaltwasserbeckens und schaute in sein eigenes Gesicht, das sich im Wasser spiegelte. Solange er denken konnte, war sein Leben mit dem Wasser verbunden. Mit sauberem, gut riechendem Wasser, nicht mit dem schlammigen, trüben, träge dahinkriechenden Wasser des Nils. In seinem Reich gab es keine gefräßigen Krokodile, nur gefräßige Menschen, die nicht minder gefährlich waren. Sie alle kamen zu ihm, ins erste Badehaus am Platz, alle, die in Theben wichtig waren. Oder sich für wichtig hielten. Während sie entspannt in den Becken plätscherten, machten die Hohen Priester und Priesterinnen, die Kommandanten und die Großgrundbesitzer Politik. Bei ihm, in seiner Hörweite. Sicher, ihm gehörte das Badehaus nicht, er war nur der oberste Angestellte von Maf’neter, dem Besitzer. Dennoch war es sein Badehaus.
    Hier bewegte sich nicht einmal ein Ba, die Seele eines eben Verstorbenen, ohne dass er davon wusste. Geschweige denn ein lebendiger Mensch.

     
    Aram kannte die kleinen und großen Geheimnisse von Theben, wusste, wer mit wem befreundet oder verfeindet war, wer wen bestohlen hatte oder wer wem nach dem Leben trachtete. Trotz der aufkommenden Feindseligkeiten gegenüber den Hyksos seit der Ermordung Seqenenres versuchte niemand, an seiner Position zu kratzen. Vielleicht deshalb, weil sie ihn gar nicht mehr wahrnahmen. Er gehörte zum Inventar, er war ein Stück Einrichtung, er war etwas absolut Selbstverständliches, so selbstverständlich, dass man ihn übersah. Wie die Götterstatuen am Beckenrand, die in Reih und Glied aufgestellt die Badenden beobachteten. Keiner der Gäste würde bemerken, wenn eine davon fehlte.
    Ob sie merken würden, wenn er, Aram, fehlte? Sicher, ganz sicher. Denn er war der Regisseur im Theater namens Badehaus. Ein Wink von ihm, und den Gästen wurden parfümierte Handtücher gereicht; ein Handzeichen, und die Erfrischungen häuften sich von Sklavenhand am
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