Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Nichte der Marquise - Die Nichte der Marquise

Die Nichte der Marquise - Die Nichte der Marquise

Titel: Die Nichte der Marquise - Die Nichte der Marquise
Autoren: Daria Charon
Vom Netzwerk:
Sie hasste ihn. Sie hasste ihre ganze Sippe. Ihr ganzes Leben. Arbeit von früh bis spät. Nie genug auf dem Tisch, um wirklich satt zu sein. Nie etwas für sich alleine haben. Immer nur teilen, teilen, teilen. Das Kleid, das sie trug, hatten bereits ihre vier Schwestern getragen. Jedes Mal, wenn sie es anzog, hatte sie Angst, dass der brüchige Stoff aufs Neue reißen würde. Der Rock war so oft geflickt worden, dass man die ursprüngliche Farbe nicht mehr erkennen konnte.
    Antoine schulterte den Tragekorb und ging weiter. Zornig bückte sich Marie nach der Flasche, die er achtlos weggeworfen hatte. Das Heumachen dauerte bis zum Sonnenuntergang, und bis dahin würde ihre Kehle ebenso trocken sein wie das Gras zu ihren Füßen.
    Marie straffte den Rücken und fasste die Heugabel fester. Warum war sie auch so dumm gewesen, Antoine ihr Wasser zu geben? Sie kannte ihn. Sie wusste, was von ihm zu erwarten war. Spott, Geringschätzung und Bosheit. Ganz bestimmt keine Dankbarkeit.
    Sie musste sich abgewöhnen, Mitgefühl zu haben. Sie musste ebenso hart werden wie Antoine und der Rest ihrer Sippe. Nur auf diese Art konnte sie überleben. Niemand sollte mehr die Macht haben, sie zu verletzen.
    Mit einer weit ausholenden Bewegung harkte sie das trockene Gras zusammen und blinzelte die Tränen weg. Niemand sollte mehr die Macht haben, sie zu verletzen. Niemand sollte mehr ... Niemand sollte ... Niemand ...
    Ihr Rücken schmerzte, und ihr Mund war trocken wie Sägemehl, aber die Sonne stand noch immer unbarmherzig hoch. Wieder einmal wischte Marie die Stirn mit dem Unterarm ab und blickte auf den Feldweg. Die Hitze ließ die Luft flimmern, deshalb kniff sie die Augen zusammen, um das sich nähernde Gefährt besser sehen zu können.
    Doch sie erlag keinem Trugbild: Das von einem alten Gaul gezogene Fuhrwerk entpuppte sich tatsächlich als das ihres Vaters. Er hieb mit der Peitsche auf die alte Mähre ein, als gelte es, ein Wettrennen zu gewinnen, und dabei brüllte er unverständliche Worte.
    Marie ließ die Heugabel fallen und rannte, ebenso wie ihre vier Schwestern, mit gerafften Röcken auf ihren Vater zu. Etwas Schlimmes musste sich ereignet haben, sonst würde er nicht mitten am Tag hier auftauchen.
    Das Fuhrwerk hielt, und ihr Vater schrie heiser: »Steigt auf, schnell, wir dürfen keine Zeit verlieren.«
    Sie kletterte hinter Simone auf die Ladefläche des Gefährts. Ihre Schwester Elaine setzte sich hinter den Kutschbock. »Was ist geschehen, Papa? Ist etwas mit maman?«
    »Nein, nein, ihr geht es bestens, keine Sorgen, meine Täubchen.« Marie konnte sich nicht erinnern, ihren Vater jemals so aufgeregt erlebt zu haben. Martin Callière war ein besonnener Mann, der es sich zur Angewohnheit gemacht hatte, jede Seite einer Sache lange und gründlich zu begutachten, ehe er sich zu handeln entschloss. Sein stoisches Gemüt ließ sich weder zu raschen Entscheidungen drängen noch von einmal gefassten Meinungen abbringen.
    »Warum kommst du uns dann holen, Papa? Es ist noch lange hin bis zum Abend«, stellte Véronique fest.
    »Weil es wichtig ist, ma petite. Der Himmel hat uns einen Engel geschickt, der unser aller Leben verändern wird.«
    Marie erwiderte Elaines fragenden Blick mit einem Schulterzucken. Diese Art von Geheimniskrämerei lag genauso wenig in der Natur ihres Vaters wie der Glaube an himmlische Mächte. Aber was immer es war, das ihn auf die Felder hinausgetrieben hatte, sie würden es in unmittelbarer Zukunft erfahren.
    Simone beugte sich zu ihr und flüsterte: »Glaubst du, er ist vom Dach gefallen?«
    Marie unterdrückte ein Kichern. »Vielleicht hat ihn auch der Gaul getreten.«
    Zu ihrem Erstaunen kamen ihnen andere Fuhrwerke mit ebenso aufgeregten Kutschern in halsbrecherischer Fahrt entgegen. In einem Bruchteil der dafür normalerweise nötigen Zeit erreichten sie Trou-sur-Laynne. Ihr Vater brachte das Gefährt vor dem größten Haus des Dorfes, das dem Bauern Luc Serrant gehörte, zum Halten.
    Mit einiger Verwunderung nahm Marie zur Kenntnis, dass bereits etliche Fuhrwerke vor dem Gebäude standen. Außerdem entdeckte sie die große Reisekutsche, die sie von der Wiese aus beobachtet hatte. Die Pferde hatte man ausgespannt, vermutlich waren sie zur Tränke hinter dem Haus geführt worden.
    Gemeinsam mit ihren Schwestern stieg sie von der Ladefläche und blickte ihren Vater abwartend an. Statt einer Erklärung ging er an seinen Töchtern vorbei und öffnete das schwere Holztor. »Sputet euch, wir sind
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher