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Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater
Autoren: Kai Meyer
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zusammengerollt im Gras. Sie schien zu schlafen, und doch stand ihr Maul mit den nadelspitzen Fangzähnen weit offen, als wartete sie nur darauf, daß sich eine Beute hinein verirrte. Ihr Körper schillerte betörend.
    Ich schüttelte mich vor Ekel und Entsetzen. Es war zu dunkel, um zu erkennen, ob zwischen den Gräsern noch weitere dieser Biester lauerten. Vielleicht hatte Faustus recht; vielleicht war es am besten, hier im Haus auf seine Rückkehr zu warten.
    Ich wandte den Kopf zu Angelina und betrachtete sie stumm. Sie rührte sich nicht, blickte einfach geradeaus in die Nacht. Das Eislicht schien allem die Farbe zu nehmen, auch ihren Augen; das Blau war zu einem hellen Grau geworden. Die Schatten ihrer Narben wirkten noch tiefer, was ihrer Haut ein bizarres schwarzes Muster verlieh. Außer ihren Augen waren allein die Lippen unversehrt. Nachdem die ursprüngliche Schwellung abgeheilt war, waren sie nun ebenmäßig und von feinster Form. In jedem anderen Gesicht hätten sie bezaubernd, beinahe fordernd gewirkt. Doch es fiel schwer, sich vorzustellen, daß Angelina irgendwann einmal die Ruhe finden würde, an etwas anderes als an ihre Vergangenheit und die Vergeltung dafür zu denken.
    Die Wunden auf ihrem Rücken waren fast vollständig verheilt. Als die Engel des Borgia sie aus ihren Reihen verstießen, hatten sie ihr dort etwas aus dem Fleisch geschnitten. Auch Faustus wußte nicht, was es war. Die Verletzung hatte die Form einer römischen Fünf, die sich fast über ihren ganzen Rücken erstreckte. Der Heiler einer Gauklertruppe, die Angelina halbtot am Straßenrand auflas, hatte behauptet, sie sei ein echter Engel gewesen, dem man die Flügel herausgeschnitten hatte. Nun wußten wir aber, daß Angelina allzu menschlicher Abstammung war, daher blieb das Rätsel der Wunden ungelöst.
    Angelina trug dunkle Hosen wie ein Mann, dazu ein Hemd aus weißem, weitfallendem Stoff. Wenn unser Weg es nötig machte, Dörfer und Städte zu durchqueren, zog sie eine Ledermaske über ihr Gesicht und den kahlen Schädel. Freilich erregte sie auch maskiert noch einiges Aufsehen. Immer wieder erkundigten sich Wirte und Stadtgardisten, ob Angelina an einer ansteckenden Krankheit litte. Oft geschah es, daß Menschen einen großen Bogen um uns machten, wenn sie ihrer angesichtig wurden. Die Pest wütete ungebrochen in zahlreichen Landstrichen, und so war die Furcht vor Seuchen größer als vor dem leibhaftigen Satan.
    Ein Schrei ließ uns aufschrecken. Er war hoch und leise, der Schrei eines Tieres. Er schien von oben zu kommen. Vom Dach.
    Ich wollte mich nicht weiter darum kümmern, doch Angelina fuhr herum. Mit wenigen weiten Sätzen war sie an der Tür.
    Ich rief ihren Namen, vergeblich.
    Ihre leichten Schritte huschten draußen über den Gang und entfernten sich. Als ich selbst die Tür erreichte und auf den Flur trat, sah ich, wie Angelina prüfend eine viereckige Holzplatte in der Decke betrachtete. Dann schaute sie sich suchend am Boden um, lief schließlich an mir vorbei zurück in die Kammer und zog ihr Schwert aus den Bündeln unserer Habseligkeiten. Damit stellte sie sich unter die Platte und versuchte, sie von unten mit der Schwertspitze anzuheben. Der Versuch glückte, und in der Decke tat sich der Einstieg zum Dachboden auf.
    »Was hast du vor?« fragte ich einigermaßen verwirrt.
    Angelina winkte mich herbei und bedeutete mir, daß sie über meine Schultern nach oben steigen wollte. Meinen Protest ließ sie nicht gelten. Blitzschnell glitt sie an mir hinauf und zog sich über die Kante auf den Speicher. Es war stockdunkel dort oben. Ich eilte zurück, holte eine unserer Fackeln herbei und reichte sie ihr mit ausgestrecktem Arm. Dann verschwand sie jenseits des Einstiegs.
    Noch einmal rief ich hinter ihr her, obgleich ich wußte, wie zwecklos das war. Ich beschloß, ihr zu folgen.
    Der Tierschrei, zum zweiten Mal. Eine Katze. Wahrscheinlich das schwarze Mistvieh, das mich auf der Treppe gekratzt hatte.
    Ich wollte Angelina erklären, daß Katzen aus allen möglichen Gründen und zu jeder Gelegenheit kreischen. Ich zweifelte, daß es dort, wo sie die vergangenen dreizehn Jahre verbracht hatte, Katzen gab. Hoffentlich hatte sie das Tier wenigstens als solches erkannt und setzte ihr Leben nicht für einen Irrtum aufs Spiel.
    Ich trug einen der alten Stühle unter die Deckenluke, stellte mich obenauf und versuchte von dort aus, in einem gewagten Sprung nach der Kante zu greifen. Meine Finger berührten das Holz, doch
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