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Die Nebelkinder

Die Nebelkinder

Titel: Die Nebelkinder
Autoren: Joerg Kastner
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er die Zwiebelkuchen auf die letzte Tafel zu stellen, weit weg von Graf Guntram und seiner schönen Tochter. Während Albin den Befehl ausführte, warf er Gerswind ein paar scheue Blicke über die Schulter zu. Der Saal war voll mit Edlen aus fast allen wichtigen Nachbarländern des Ostfränkischen Reiches: Westfranken, Hochburgund, Arelat und Italien. Albin fiel auf, dass der Mährenkönig Swatopluk, immerhin Taufpate von König Arnulfs Sohn Zwentibold, nicht mit einer Gesandtschaft vertreten war.
    Im Licht der Kerzen und Lampen leuchteten kostbare Kleider, wie Albin sie niemals zuvor gesehen hatte: Samt und Seide, Gold- und Silberstickereien im
    Überfluss. Am stärksten aber strahlte für Albin das eher einfach gekleidete Mädchen mit den vollen Lippen, den hohen Wangenknochen, den haselnussbrau- nen Augen und den Locken gleicher Farbe, die das zarte Gesicht sanft umspielten. Gerswinds Schönheit benötigte keinen künstlichen Schmuck.
    Täuschte er sich oder erwiderte sie seinen Blick? Aber wie konnte die Tochter eines Grafen jemanden wie ihn, einen Findling, überhaupt bemerken?
    Um sich zu vergewissern, wollte Albin die Platte mit den Zwiebelkuchen absetzen. In diesem Augenblick schoss ein scharfer Schmerz durch seinen Kopf, wie ein Dolch, der durch den Nacken in seinen Schädel gerammt wurde. Blitze zuckten vor seinen Augen, ihm wurde schlecht, der ganze Saal schwankte und begann, sich zu drehen. In Wahrheit war es Albin, der den Halt verlor. Die Holzplatte krachte zu Boden und die Zwiebelkuchen purzelten wild durcheinander.
    Der Schmerz verwandelte sich in Worte. Worte, die nicht an seine Ohren drangen. Es schien, als spreche sie ein Geist, der sich in Albins Kopf eingenistet hatte: Der Tod ist nah. Gleich wirst du sterben, Graf! Wird ein hübscher Tanz werden...
    Die Worte wurden leiser, schwächer, verflüchtigten sich wie Nebelschwaden, die sich unter den Strahlen der Sonne auflösen. Albins Schwäche war vorbei, nicht aber seine Verwunderung. Bruder Humbert ließ ihm keine Zeit, über das seltsame Erlebnis nachzudenken.
    Der Cellarius baute sich drohend vor Albin auf und donnerte: »Was ist in dich gefahren, du Tollpatsch? Es war ein Unglückstag, als Bruder Graman dich ins Kloster holte. Hast wohl nur Augen für die schöne
    Gerswind, was? Die wird sich gerade für einen armen Knirps erwärmen. Sieh zu, dass du die Schweinerei schnell wegräumst!«
    Unter anderen Umständen wäre Albin vor Scham im Boden versunken. Er hatte den Cellarius und sich selbst lächerlich gemacht, vor allen Gästen - auch vor Gerswind. Aber das unheimliche Erlebnis, die Stimme in seinem Kopf, beschäftigte ihn, während er niederkniete, um die Zwiebelkuchen aufzusammeln.
    Jetzt, edler Herr, spüre die Macht der Nebelkinder!
    Da war die Stimme wieder, diesmal von einem bloß leichten Schmerz begleitet. Albin verhielt kurz in seiner Arbeit, um den lautlosen Worten zu lauschen. Er nahm nur ein seltsames Gefühl wahr, eine Mischung aus Befriedigung und Neugier. Aber es waren nicht seine Empfindungen.
    Einer der hohen Gäste zog die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Graf Chlodomer, der westfränkische Gesandte, war abrupt von der Tafel aufgesprungen und begann einen wilden Tanz mit Bewegungen, die noch schneller waren als die Melodie des Flötenspielers. Der untersetzte Leib des Grafen zuckte in aberwitzigen Verrenkungen hin und her, zu denen seine in gold verzierten Schuhen steckenden Füße einen immer rascheren Takt stampften, als sei Chlodomer der Boden zu heiß. Die scharlachfarbene Hose und der blaue Rock des Grafen, beides mit breiten Goldborten versehen, verschwammen vor den Augen der verwirrten Menge zu bunten, glitzernden Flecken. Gerade hatten sich einige der Tafelnden entschlossen, Chlodomers Tanz mit anfeuernden Rufen zu unterstützen, da brach der Graf mit einer grotesken Drehung zusammen und fiel bäuchlings auf den Estrich. Ein krampfhaftes Zucken lief in mehreren Wellen durch seinen Leib, dann lag er vollkommen reglos da.
    Empfiehl dich deinem Christengott, Graf Chlodomer! Einen guten Tänzer können die himmlischen Heerscharen bestimmt gebrauchen.
    Es war ein höhnischer Gedanke, in dem tiefe Befriedigung mitschwang, Befriedigung über den Tod des Gesandten. Obschon Albin diese fremde Empfindung, wie die Gedanken und Gefühle zuvor, in seinem Kopf spürte, schien sie ihm aus einer bestimmten Richtung zu kommen: von links. Albins Kopf ruckte herum und seine Augen hefteten sich auf die beiden stämmigen Säulen, die
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