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Die Nebel von Avalon

Titel: Die Nebel von Avalon
Autoren: Marion Zimmer Bradley
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die Kleine? Man sieht sofort, daß in ihr das Blut des Alten Volkes fließt. Sie gleicht unserer Mutter, Igraine.«
    Zu dieser Zeit war Viviane, die Herrin vom See und Herrin der Heiligen Insel, bereits über dreißig Jahre alt und hatte als älteste Tochter der Priesterin des Sees das alte heilige Amt von der Mutter übernommen. Jetzt nahm sie Morgaine auf den Arm, und der kundige Griff verriet, daß sie gewöhnt war, mit kleinen Kindern umzugehen.
    »Sie sieht ja wie
du
aus!« rief Igraine überrascht, und ihr wurde bewußt, daß sie das schon längst hätte erkennen müssen. Aber sie hatte Viviane zum letzten Mal vor vier Jahren gesehen, bei ihrer Hochzeit. So vieles war inzwischen geschehen, und Igraine hatte sich sehr verändert. Damals war sie ein furchtsames, fünfzehnjähriges Mädchen gewesen, das man einem Mann überantwortete, der mehr als doppelt so alt war wie sie.
    »Aber kommt in die Halle, Ehrwürdiger Merlin! Meine Schwester, kommt in die Warme!« Ohne Mäntel und Schals war Viviane, die Herrin von Avalon, eine überraschend kleine Frau – nicht viel größer als ein gutgewachsenes acht- oder zehnjähriges Mädchen. In der weiten Tunika mit dem Gürtel, dem Messer in der Scheide an der Hüfte, der dicken wollenen Hose und den unförmigen Wadenwickeln wirkte sie winzig, wie ein Kind in Erwachsenenkleidern. Sie hatte ein kleines, dunkles, dreieckiges Gesicht und eine niedrige Stirn unter schwarzen Haaren, die so dunkel waren, wie die Schatten zwischen den Klippen. Auch ihre Augen waren dunkel und wirkten groß in dem kleinen Gesicht. Nie zuvor war Igraine bewußt geworden, wie klein Viviane war. Eine Dienerin brachte den Willkommenstrunk: heißen Wein, gemischt mit den letzten Gewürzen, die Gorlois ihr vom Markt in Londinium geschickt hatte. Viviane nahm den Pokal in beide Hände, und Igraine sah sie verwundert an. Die Geste, mit der die Schwester nach dem Pokal griff, machte sie plötzlich groß und eindrucksvoll – als hätte sie den geweihten Kelch der Heiligen Insignien in Händen. Viviane hob ihn hoch und setzte ihn langsam an die Lippen, während sie leise einen Segen sprach. Sie nahm einen Schluck und übergab das Gefäß dem Merlin. Er nahm es mit einer ernsten Verbeugung entgegen und setzte den Pokal an die Lippen. Igraine wußte wenig über die Mysterien, doch sie spürte, daß auch sie Teil dieses schönen Rituals wurde, nahm ebenso feierlich den Pokal von ihrem Gast entgegen, trank und sprach die Begrüßungsformel.
    Dann stellte sie das Gefäß beiseite, und der erhabene Augenblick war vorüber. Viviane war nur noch eine kleine, müde wirkende Frau und der Merlin nicht mehr als ein gebeugter alter Mann. Igraine führte beide schnell an die offene Feuerstelle.
    »In einer Zeit wie dieser ist es eine weite Reise von den Ufern des Sommersees bis hierher zu uns«, sagte sie und dachte daran, wie sie damals als junge Braut – furchtsam und insgeheim haßerfüllt – den Weg im Gefolge des ihr fremden Gemahls, der noch nicht mehr war als eine Stimme und ein Schrecken in der Nacht, zurückgelegt hatte. »Was führt Euch in den Frühlingsstürmen hierher, meine Herrin und Schwester?«
    Und warum bist du nicht früher gekommen? Warum hast du mich hier ganz allein gelassen, wo ich lernen mußte, eine Ehefrau zu werden und voll Angst und Heimweh ein Kind zur Welt zu bringen? Und weshalb kommst du überhaupt, wo du doch vorher nicht kommen konntest? Jetzt ist es zu spät, und ich habe mich schließlich in mein Schicksal ergeben.
    »Es ist wahrlich ein weiter Weg«, antwortete Viviane mit sanfter, begütigender Stimme, und Igraine wußte, daß die Priesterin auch diesmal wieder die gedachten Worte ebenso gehört hatte wie die gesprochenen. »Und wir leben in einer gefährlichen Zeit, mein Kind. Aber aus dir ist eine Frau geworden in diesen Jahren, selbst wenn sie einsam waren… so einsam wie die Jahre der Abgeschiedenheit, die ein Mann durchleben muß, um Barde zu werden… oder«, fügte sie mit dem leichten Anflug eines erinnernden Lächelns hinzu, »oder eine Frau auf dem Weg zur Priesterin. Hättest du dich dafür entschieden, meine liebe Igraine, wärst du nicht weniger einsam gewesen. Ja natürlich«, sagte sie und beugte sich mit freundlichem Gesicht nach unten, »natürlich darfst du auf meinen Schoß, Kleines.« Sie hob Morgaine hoch, und Igraine sah es voll Verwunderung. Normalerweise war Morgaine scheu wie ein wildes Kaninchen. Halb vorwurfsvoll, halb im Bann des alten Zaubers,
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