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Die Nebel von Avalon

Titel: Die Nebel von Avalon
Autoren: Marion Zimmer Bradley
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spreche ich manchmal von Dingen, die sich ereigneten, als ich zu jung war, um sie zu begreifen, oder von Dingen, die sich nicht in meiner Anwesenheit ereigneten. Der Hörer wird sich vielleicht entsetzt abwenden und sagen: Das ist ihre Magie!
    Aber ich habe schon immer die Gabe des Gesichts besessen und konnte sehen, was Männer und Frauen dachten. So war ich ihnen allen die ganze Zeit über nahe. Deshalb wurde mir manchmal auf die eine oder andere Weise alles bekannt, was sie dachten, und ich kann diese Geschichte von Anfang bis Ende erzählen.
    Eines Tages werden auch die Priester sie erzählen. Vielleicht liegt die Wahrheit zwischen beiden Geschichten und wird durch sie hindurchschimmern. Denn das wissen die Priester mit ihrem Einen Gott und der Einen Wahrheit nicht: Die eine wahre Geschichte gibt es nie und nimmer. Die Wahrheit hat viele Gesichter, und die Wahrheit ist wie der alte Weg nach Avalon: Es hängt von deinem Willen und deinen
Gedanken ab, wohin der Weg dich führt. Es hängt von dir ab, ob du am Ende die Heilige Insel der Ewigkeit erreichst, oder ob du bei den Mönchen mit ihren Glocken, ihrem Tod, ihrem Teufel, ihrer Hölle und ihrer Verdammnis ankommst… aber vielleicht bin ich ihnen gegenüber auch ungerecht. Selbst die Herrin vom See, die das Gewand eines Christuspriesters haßte wie eine giftige Schlange – und das aus gutem Grund –, tadelte mich einmal, weil ich schlecht über ihren Gott gesprochen hatte.
    »Denn alle Götter sind ein Gott«, sagte sie damals zu mir, wie sie es bereits oft getan hatte, und wie ich viele Male zu meinen Priesterschülerinnen gesagt
    habe, und wie jede Priesterin, die nach mir kommt, sagen wird. »Und alle Göttinnen sind eine Göttin, und es gibt nur einen Gott, mit dem alles begann. Jeder Mensch hat das Recht auf seine eigene Wahrheit und auf den Gott, der durch sie spricht.« Und so windet sich die Wahrheit vielleicht irgendwo zwischen dem Weg nach Glastonbury, der Insel der Priester, und dem Weg nach Avalon, das für immer in den Nebeln des Sommersees verloren ist. Aber dies ist meine Wahrheit. Ich bin Morgaine, und ich erzähle euch diese Dinge… ich, Morgaine, die in späteren Zeiten Morgan le Fay genannt wurde – die Fee Morgana.
     

Erstes Buch
Die Hohepriesterin

1
    Selbst mitten im Sommer war Tintagel ein gespenstischer Ort. Igraine, die Gemahlin des Herzogs Gorlois, blickte hinaus auf das Meer. Sie sah in den Dunst und den Nebel und überlegte, wie es ihr gelingen würde, die Tagundnachtgleiche zu bestimmen, damit sie das Neujahrsfest feiern konnte. In diesem Jahr waren die Frühjahrsstürme ungewöhnlich heftig gewesen; das Donnern des Meeres hatte Tag und Nacht im Schloß widergehallt, bis keiner der Bewohner mehr ein Auge zutun konnte und sogar die Hunde klagend heulten.
    Tintagel… es gab immer noch Leute, die glaubten, die Burg auf den Klippen am Ende der weit ins Meer hinausragenden Landspitze sei durch die Magie des Alten Volks von Ys entstanden. Herzog Gorlois lachte darüber und sagte, wenn ihm solche Zauberkräfte zur Verfügung stünden, hätte er sie benutzt, um das Meer daran zu hindern, sich Jahr für Jahr weiter in die Küste hineinzufressen. In den vier Jahren seit ihrer Ankunft als Braut des Herzogs hatte Igraine mitangesehen, wie das Land, gutes Land, im Cornischen Meer verschwand.
    Lange schwarze Felsenarme ragten scharf und zerklüftet vom Festland in die See. Wenn die Sonne schien, konnte alles klar sein und leuchten. Dann funkelten Himmel und Wasser wie die Juwelen, mit denen Gorlois sie an dem Tag überschüttet hatte, an dem sie ihm sagte, sie sei schwanger und erwarte sein erstes Kind.
    Aber Igraine trug den Schmuck nicht gerne. Den Edelstein um ihren Hals hatte man ihr in Avalon gegeben; es war ein Mondstein, der manchmal das blaue Strahlen von Himmel und Meer zurückwarf.
    Aber heute wirkte sogar dieser Stein stumpf und matt. Der Nebel trug Geräusche über weite Entfernungen. Es schien Igraine, während sie auf der Landzunge stand und zum Festland blickte, als könne sie den Hufschlag von Pferden und Maultieren und das Geräusch von Stimmen hören – Menschenstimmen im einsamen Tintagel? Hier lebte niemand außer Ziegen und Schafen, den Hirten und ihren Hunden, und den Edelfrauen der Burg mit ein paar Dienstmägden und ein paar alten Männern, die sie beschützen sollten.
    Igraine drehte sich langsam um und ging zur Burg zurück. Wie immer, wenn sie im Schatten des düsteren, uralten Gemäuers stand, kam sie sich sehr
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