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Die Naschmarkt-Morde

Titel: Die Naschmarkt-Morde
Autoren: Gmeiner-Verlag
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eines langsamen Erwachens, das von dem Wunsch weiterzuschlafen stark verzögert wurde. Sie zwang sich, wach zu werden. Denn die Geräusche waren dermaßen ungewöhnlich, dass sie unbedingt nachschauen wollte, was hier vorging. Noch ungewöhnlicher war aber, dass plötzlich – mitten in der Nacht – jemand mehrmals vehement an ihre Schlafzimmertür klopfte. Mit dünner, verschlafener Stimme rief sie: »Wer ist da?«
    Niemand antwortete. Stille. Nun war sie endgültig wach. Mit lauter und gleichzeitig etwas zitternder Stimme rief sie nochmals: »Wer ist da?«
    Auch diesmal erfolgte keine Antwort. Stille. Die Baronin war nun verunsichert: Sollte sie aufstehen und den merkwürdigen Geräuschen nachgehen? Oder sollte sie sich lieber im Bett verkriechen, die Decke über beide Ohren ziehen und versuchen, möglichst schnell wieder einzuschlafen? Vielleicht würde sich morgen – bei Tageslicht – alles als harmlose Geschichte herausstellen? Vielleicht hatte Aloysius gar eines seiner Mädeln mit in die Wohnung gebracht? Obwohl er wusste, dass ihr das unter keinen Umständen recht war. Schließlich war ihre Wohnung ja kein öffentliches Haus! Je länger die Baronin nun über diese Möglichkeit nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien sie ihr. Aloysius hatte eines dieser jungen, liederlichen Geschöpfe in die Wohnung mitgebracht. Wahrscheinlich hatte es zwischen den beiden eine kurze Auseinandersetzung gegeben – vielleicht war es um Geld gegangen –, und dann hatte er sie hinausgeschmissen. Das bedeutete, dass der dumpfe Knall nicht von der Besenkammertür, sondern von der Wohnungstür stammen musste. Und danach hatte er an ihre Schlafzimmertüre geklopft, um sich zu vergewissern, dass sie von der ganzen Aufregung nichts bemerkt hatte. Kaum dass sie sich diese Erklärung zurechtgelegt hatte und beruhigt hinüber ins Land der Träume gleiten wollte, klopfte es wieder an ihrer Schlafzimmertür.
     
    Sie schreckte aus dem Halbschlaf auf. Ihr Herz pochte. Ihr Puls raste. Angstschweiß! Irgendetwas war da draußen im Gange. Schließlich hielt sie es im Bett nicht mehr aus. Mit einem energischen Ruck stand sie auf, um sich Gewissheit zu verschaffen. Vielleicht hatte ihr Sohn die kleine Schlampe allein hier in der Wohnung zurückgelassen? Sie schlüpfte in ihre Seidenpantoffeln und streifte sich den Morgenmantel über das Nachthemd. Nachdem sie mit zitternden Händen den Gürtel des Morgenmantels um die Leibesmitte zusammengezurrt hatte, öffnete sie mit einem Ruck die Schlafzimmertür. Sie spähte hinaus. Doch draußen im lang gezogenen Vorzimmer war nichts. Merkwürdig war nur, dass die Tür, die vom Vorzimmer in den Salon führte, ein Stück geöffnet war. Flackerndes Kerzenlicht schimmerte durch diesen Spalt. Noch immer schlaftrunken, schlurfte die Baronin zum Salon, öffnete die Tür und war erstaunt. Auf dem Tisch in der Mitte des Salons lag ein dickes Buch, links und rechts davon standen zwei Kerzenleuchter. Wie von einem Zauber erfasst, ging die Baronin auf das Buch und die flackernden Kerzen zu, zog den zur Seite gerückten Sessel zum Tisch, setzte sich und begann, die in dem Buch aufgeschlagene und mit mehreren Federstrichen gekennzeichnete Stelle zu lesen:
     
    Die Mutterliebe ist darum unmoralisch, weil sie kein Verhältnis zum fremden Ich ist, sondern ein Verwachsensein von Anfang an darstellt; sie ist, wie alle Unsittlichkeit gegen andere, eine Grenzüberschreitung.
     
    Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass sich noch jemand in dem Raum befand. Doch sie war wie gebannt von der Bösartigkeit des Textes. Statt sich umzudrehen, las sie weiter.
     
    Es gibt ein ethisches Verhältnis nur von Individualität zu Individualität. Die Mutterliebe schaltet die Individualität aus, indem sie wahllos und zudringlich ist …
     
    Weiter kam sie nicht. Blitzschnell wurde ihr von hinten ein Seidentuch um den Hals gelegt. Mit einem energischen Ruck zog es sich zu. Die Baronin kämpfte um Luft. Sie krallte ihre Finger in die Seide. Sie strampelte und krächzte. Vergebliche Versuche, das Tuch zu lockern. Luft! Rudernde Arme. Hilfe! Hysterisches Röcheln. Ein umfallender Kerzenleuchter. Stille.

XIII/3.
    Leo Goldblatt schwitzte. Im Gegensatz zu seinen sonstigen Gewohnheiten schwitzte er nicht beim In-die-Luft-Schauen. Nein, er schwitzte bei der Arbeit. Wie ein Besessener schrieb er, brütete über dem Geschriebenen, schob es zur Seite oder zerknüllte es verärgert. Seine Schreibbemühungen galten der letzten – mit Nechyba im
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