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Die Nacht der Wölfin

Die Nacht der Wölfin

Titel: Die Nacht der Wölfin
Autoren: Kelley Armstrong
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Familie, wenn auch nicht die traditionelle Sorte – mit Philip. Wir waren jetzt lang genug zusammen, dass ich zu glauben begann, ein gewisses Maß an Stabilität in meinem Leben könnte möglich sein. Ich konnte das Glück noch kaum fassen, einen so normalen, so anständigen Menschen wie Philip gefunden zu haben. Ich wusste, wer ich war. Ich war schwierig, launisch, streitsüchtig, nicht der Typ Frau, für den sich jemand wie Philip normalerweise interessieren würde. Natürlich benahm ich mich in Philips Gegenwart nicht so. Diese Seite – die Werwolfseite – hielt ich verborgen in der Hoffnung, sie irgendwann abstreifen zu können wie eine alte Haut. Mit Philip hatte ich eine Chance, mich selbst neu zu erfinden, der Mensch zu werden, von dem er glaubte, ich sei es. Und natürlich war dies genau die Sorte Mensch, die ich sein wollte.
    Das Rudel verstand nicht, weshalb ich mich dafür entschieden hatte, unter Menschen zu leben. Sie verstanden es nicht, weil sie nicht waren wie ich. Zum einen war ich nicht als Werwolf geboren worden. Die meisten Werwölfe sind es von Geburt an; zumindest haben sie das Werwolfblut in den Adern und werden ihre erste Wandlung erleben, wenn sie erwachsen sind. Die zweite Möglichkeit, zum Werwolf zu werden, ist, von einem gebissen zu werden. Wenige Menschen überleben den Biss eines Werwolfs. Werwölfe sind weder dumm noch selbstlos. Wenn sie zubeißen, wollen sie töten. Wenn sie tatsächlich einmal zugebissen haben, ohne zu töten, verfolgen sie das Opfer und bringen die Angelegenheit zu Ende. Es ist einfach eine Frage des Überlebens. Wenn ein Werwolf sich einmal in irgendeiner Stadt etabliert hat, ist ein halbverrückter neuer Werwolf, der sein Territorium in Aufruhr bringt, Leute abschlachtet und Aufmerksamkeit auf sich zieht, das Letzte, was er brauchen kann. Und selbst wenn jemand gebissen wird und zunächst entkommt, sind seine Überlebenschancen minimal. Die ersten paar Wandlungen sind die reine Hölle, und zwar sowohl für den Körper als auch für den Geist. Geborene Werwölfe wachsen mit dem Wissen um ihr Erbe auf und haben ihre Väter, die ihnen helfen können. Gebissene Werwölfe sind auf sich selbst gestellt. Wenn sie nicht an der körperlichen Belastung sterben, treibt die geistige sie entweder in den Selbstmord oder veranlasst sie dazu, genug Aufruhr zu verursachen, dass ein anderer Werwolf sie aufspürt und ihrem Leiden ein Ende macht, bevor sie ernsthaften Schaden anrichten können. Es gibt also nicht allzu viele gebissene Werwölfe in freier Wildbahn. Bei der letzten Zählung gab es etwa fünfunddreißig Werwölfe auf der Welt. Genau drei von ihnen waren nicht als Werwolf geboren worden. Einer davon bin ich.
    Ich. Der einzige weibliche Werwolf auf Erden. Das Werwolfgen wird nur in der männlichen Linie vererbt, vom Vater auf den Sohn. Für eine Frau gibt es also nur eine einzige Möglichkeit, zum Werwolf zu werden, nämlich die, gebissen zu werden und zu überleben – was, wie ich schon erwähnt habe, sehr selten ist. In Anbetracht der Umstände ist es nicht weiter überraschend, dass ich die Einzige bin. Absichtlich gebissen, absichtlich zum Werwolf gemacht. Tatsächlich ist es erstaunlich, dass ich überlebt habe. Man muss bedenken, bei einer Spezies von drei Dutzend Männern und einer Frau weckt die einzige Frau unvermeidlich einige Begehrlichkeiten. Und Werwölfe tragen Meinungsverschiedenheiten nicht zivilisiert über einem Schachspiel aus. Sie sind auch nicht bekannt für ihre Achtung vor Frauen. Frauen haben in der Welt der Werwölfe genau zwei Funktionen – Sex und Abendessen. Oder, an trägen Tagen, Sex und dann Abendessen. Obwohl ich bezweifle, dass ein Werwolf mich zum Abendessen verspeisen würde, bin ich ein geradezu unwiderstehliches Objekt der Begierde, was das andere Grundbedürfnis angeht. Auf mich allein gestellt hätte ich nicht überlebt. Glücklicherweise war ich nicht auf mich allein gestellt. Seit ich gebissen worden war, hatte ich unter dem Schutz des Rudels gestanden. Jede Gesellschaft hat eine herrschende Klasse. In der Werwolfwelt ist es das Rudel. Aus Gründen, die nichts mit mir selbst und alles mit dem Status des Werwolfs zu tun hatten, der mich gebissen hatte, war ich seit meiner Wandlung Teil des Rudels gewesen. Vor einem Jahr hatte ich es verlassen. Ich hatte mich losgesagt, und ich würde nicht zurückkehren. Vor die Wahl zwischen Menschen und Werwölfen gestellt, hatte ich beschlossen, ein Mensch zu sein.
    Am nächsten Tag
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