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Die Nacht der Wölfe

Die Nacht der Wölfe

Titel: Die Nacht der Wölfe
Autoren: Christopher Ross
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zurück. Clarissa fiel vom Trittbrett, knallte mit ihrer linken Seite aufs Eis, hielt den Haltegriff aber weiter fest umklammert und wurde vom Schlitten mitgeschleift. »Whoaa! Whoaa!«, rief sie den Hunden zu und konnte von Glück sagen, dass sie das Steilufer im nächsten Moment erreichten, und die Hunde im Schutz der vereisten Böschung stehen blieben.
    Vom Schmerz des Aufpralls gepeinigt, stand sie auf und wickelte die Ankerschnur rasch um einen Felsbrocken. Überrascht stellte sie fest, dass sie sich weder etwas gebrochen noch verstaucht hatte. Das Gesicht und ihre Kleidung noch immer voller Schnee, rannte sie zu Dolly zurück, fand sie erst nach einigem Suchen in dem Schneetreiben und führte sie zum Ufer. Dolly humpelte etwas, war aber nicht ernsthaft verletzt und hielt den angeschossenen Charly fest in den Armen. »Verdammtes Wetter!«, schimpfte sie sie wie ein Rohrspatz.
    »Hinter den Schlitten!«, rief Clarissa ihr zu. »Leg Charly in den Schnee, der kommt zurecht! Beeil dich … bevor der Wind richtig loslegt!« Sie zerrte ihre Schlafsäcke aus dem Vorratssack, warf Dolly einen zu und kroch hastig hinein, verhedderte sich mehrmals wegen ihrer dicken Kleidung, schaffte es aber doch, weil der Schlafsack ohnehin zu groß geraten war, und kauerte sich neben Dolly hinter ihre notdürftige Deckung. Beide hüllten sich in die verbliebenen Wolldecken und klammerten sich mit beiden Händen an den Schlitten, darauf gefasst, gleich ein Inferno zu erleben. »Es geht los!«, rief Clarissa, als sie eine wogende Schneewolke auf sich zukommen sah. »Duck dich! Das sieht böse aus! Emmett, halt die Hunde zusammen, okay?«
    Sein Jaulen erstarb in dem unheimlichen Lärm, mit dem der Blizzard über sie hinwegrollte. Der Wind fiel wie ein hungriges Raubtier über sie her, wirbelte kreuz und quer über den Fluss, als wäre er froh, sich endlich einmal richtig austoben zu können, und schaufelte den Schnee mit riesigen Klauen auf sie herab. Halb im Schlafsack steckend und zwei Decken fest über den Oberkörper gezogen, hielt Clarissa dem Blizzard stand, den Kopf gesenkt und beide Augen fest geschlossen. Sie wagte nichts zu sagen, weil sie Angst hatte, der Wind könnte den Schnee in ihren Mund treiben und sie ersticken, und weil es ohnehin nichts genützt hätte, nachdem man in dem Inferno nicht mal sein eigenes Wort verstand. Der Schlitten wurde angehoben und krachte wieder nach unten, verkantete sich zwischen aufgeworfenem Eis und lag plötzlich fest. Ein Glück für sie, aber auch für die Hunde, die mit dem Schlitten über den Fluss getrieben oder gegen die vereiste Uferböschung geschleudert worden wären.
    Clarissa spürte, wie Dolly mit einer Hand nach ihr griff und sie fest drückte, und sah an ihrem Gesichtsausdruck, dass sie wild fluchte, ihre Art, sich gegen das Unwetter zu stellen. Obwohl Clarissa kein Wort in dem tobenden Sturm verstand, sah sie, dass ihre Freundin alle Register zog und wahrscheinlich Wörter in den Mund nahm, die selbst einen Bierkutscher aus Liverpool erröten ließen.
    Die Hunde hinter ihr erkannte sie nur schemenhaft, aber einem Husky machte selbst ein strenger Blizzard nichts aus, und Emmett erlebte einen solchen Sturm nicht zum ersten Mal. »Durchhalten!«, rief sie in den Wind, obwohl sie genau wusste, dass sie niemand verstand. »Haltet durch! Der Sturm dauert bestimmt nicht lange! Bald haben wir’s geschafft.“
    Im selben Augenblick riss der Wind ihr die Decken vom Körper, und ein Eisbrocken traf sie an der Stirn. Sie spürte noch, wie Dolly sie packte und unter ihre Decken zog, dann versank sie in einem Abgrund, so dunkel und tief, dass es Minuten zu dauern schien, bis sie den Grund erreichte. Seltsamerweise starb sie nicht, als sie unten ankam. Umgeben von bunten Farben, die sie ans Nordlicht erinnerten, fand sie sich plötzlich in einem Traum wieder, und dort wurden die Farben tatsächlich zum Nordlicht, flackerte es wie ein leuchtender Regenbogen über den Himmel und warf bunte Schatten auf den Schnee. Kein Blizzard mehr, kein schneidender Wind und kein Schneetreiben, nur ein scheinbar endloser Trail, der sich wie eine Schneise durch einen dunklen Wald zog, und in weiter Entfernung ein Mann, der zu Fuß durch den Schnee stapfte, alle paar Schritte stehen blieb und sich mit seinem ganzen Gewicht auf seinen Wanderstock stützte und länger zu verschnaufen schien.
    Clarissa glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Das war Alex, er war es wirklich, er hatte sich im letzten Moment besonnen
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