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Die Mütter-Mafia

Titel: Die Mütter-Mafia
Autoren: Kerstin Gier
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Fahrradfahren war ich gut. Ich bin auf der Nordseeinsel Pellworm geboren und aufgewachsen. Meine Eltern haben dort einen Bauernhof überwiegend Milchkühe. Eigentlich hätte ich ein Junge werden und den Hof später mal übernehmen sollen. Mit Mädchen können meine Eltern bis heute nichts anfangen.
    »Natürlich haben wir dich trotzdem lieb, Constanze«, sagt mein Vater immer, aber als drei Jahre nach mir mein Bruder geboren wurde, haben sie, glaube ich, ernsthaft darüber nachgedacht, das überflüssige Kind, also mich, zur Adoption freizugeben. Wenn ich das meinen Eltern sage - und manchmal sage ich es ihnen heute noch -, verdrehen sie nur die Augen und sagen, das sei wieder mal typisch Mädchen, und ich solle endlich erwachsen werden.
    Dass die ZVS mich damals ausgerechnet nach Köln geschickt hatte, hat meinen Eltern aber auch nicht gefallen. Sie meinten, ich wäre noch nicht reif für die Großstadt. Leider hatten sie Recht. Ich wäre lieber nach Hamburg gegangen, das war näher an zu Hause und hatte ein übersichtlicheres öffentliches Verkehrsnetz. Die Rheinländer sind meiner Erfahrung nach auch höchstens halb so offen und herzlich, wie man ihnen nachsagt: Ohne einen Cent in Zülpich-Ülpenich - das war kein Vergnügen gewesen. Niemand wollte mir sein Fahrrad leihen oder mir Geld für die Rückfahrt geben oder mich auch nur telefonieren lassen. Von rheinischer Herzlichkeit keine Spur. Der Taxifahrer, der mich schließlich nach Hause brachte, kam aus der Türkei.
    Wie gesagt, ich hatte es schwer, mich in Köln einzuleben. Ich sah sehr friesisch aus, groß, hellblond und schlaksig, mit überproportional großen Füßen und Händen. Ich trug eine Nickelbrille, kaute Fingernägel und stotterte, wenn ich aufgeregt war. Um kleiner zu wirken, ließ ich meine Schultern nach vorne fallen, und aus demselben Grund hatte ich mir einen schlurfenden Gang angewöhnt. Um den Neuanfang und meinen Erwachsenenstatus zu demonstrieren, hatte ich in Köln gleich als Erstes einen Friseur aufgesucht, der meinen meterlangen Zopf abgeschnitten und mir eine - nach eigener Auskunft - »pfiffige Kurzhaarfrisur« verpasst hatte. Aber die Frisur war nicht pfiffig, ich bin mir bis heute nicht sicher, ob es überhaupt eine Frisur war. Immerhin war sie unauffällig und schmucklos und passte so hervorragend zu meinen vorwiegend in Grau und Dunkelblau gehaltenen Klamotten. Ich trug meistens Jeans zu sackähnlichen Oberteilen, bequeme Gesundheitstreter und kein Make-up. Mit diesem Outfit fiel ich im Psychologie-Seminar auch kein bisschen aus dem Rahmen. Um mein Zugehörigkeitsgefühl noch mehr zu stärken, unterhielt ich ein unglückliches Liebesverhältnis mit einem der Jungs aus meiner WG, Jan Kröllmann. Aus falscher Scham hatte ich Jan nicht verraten, dass er der Erste für mich gewesen war, was wiederum keine gute Basis für unsere Beziehung darstellte. Ich war so verschüchtert und verklemmt, dass Jan mich nur nackt sehen durfte, wenn es stockdunkel im Raum war - also gar nicht. Er betrog mich auch recht bald mit der Freundin einer anderen Mitbewohnerin, die, wie er sagte, das bequemere Bett hatte. Da die beiden es aber nicht nur im Bett miteinander trieben, sondern auch auf dem Teppich im Flur, in der Badewanne und auf dem Küchentisch, vermutete ich ganz stark, dass sie außer dem Bett auch noch andere Vorteile mir gegenüber hatte. Aus lauter Angst, über die beiden zu stolpern, wagte ich mich kaum mehr aus meinem Zimmer und verbrachte unverhältnismäßig viel Zeit in der Uni-Bibliothek. Die Tatsache, dass ein weiterer WG-Bewohner sich hartnäckig anbot, Jans Nachfolge bei mir anzutreten,machte die Sache auch nicht gerade unkomplizierter, zumal dieser WG-Bewohner einen Kopf kleiner war als ich und einen durchdringenden Eigengeruch besaß. Ich war kurz davor, mein Studium hinzuschmeißen und zurück nach Pellworm zu gehen, um dort bis an mein Lebensende Kühe zu melken. Glücklicherweise lernte ich genau zu diesem Zeitpunkt Lorenz kennen und überdachte die Sache noch einmal.
    Ich überfuhr Lorenz ganz romantisch mit meinem Fahrrad. Er stand mitten auf dem Radweg. Bis zum letzten Augenblick dachte ich, er würde zur Seite springen, denn ich klingelte wie verrückt und machte scheuchende Handbewegungen, außerdem schimpfte ich ziemlich laut über ignorante Fußgänger auf Radwegen. Aber Lorenz war so sehr in seine Akten vertieft, dass er mich weder hörte noch sah. Ich wich im letzten Augenblick auf den Gehweg aus, aber dort kam mir ein
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