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Die Mondspielerin: Roman (German Edition)

Die Mondspielerin: Roman (German Edition)

Titel: Die Mondspielerin: Roman (German Edition)
Autoren: Nina George
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Ohr lauschte; zu berauschend war der Blick über den Fluss mit seinen gemächlich schaukelnden Booten bis zum Meer hin. Sie hörte nur bruchstückhaft etwas über die kleinen Larven und Unterwasser-Kindergärten.
    »Des plates ou des creuses?«, sagte eine Stimme hinter ihr. Der Mann, der wie Alain Delon aussah.
    Er begann zu reden, während er erst eine der runden, glatten Austern öffnete und dann eine der länglichen, mit der rauhen, krustigen Schale. Es knirschte wie ein kleiner, knackender Ast.
    Alain hielt Marianne die rundere, flache Austernschale hin.
    »Calibre numéro un, madame!«
    Ihre Hand zitterte. Sie sah in die Schale hinein. Sie sah wieder zu dem jungen Mann. Er war attraktiv, jedoch ohne dass er überzeugt davon war. Dunkelblaue Augen, in denen Zartgefühl war und Sehnsucht, ein Blick, der von vielen unerlösten Nächten sprach.
    Ich trau mich nicht.
    Sie hatte noch nie eine Auster gegessen. Als Marianne wieder den Blick des Mannes auffing, sah sie ein Lächeln auf seinen sinnlichen Lippen. Sein Nicken. Komm schon, sagte die Geste.
    Marianne ahmte die Bewegung nach, die sie bei ihm beobachtet hatte. An den Mund setzen, Kopf zurück, schlürfen.
    Sie schmeckte den feinen Hauch von Seewasser, sie schmeckte Nuss, sie schmeckte etwas Muscheliges, und in ihrer Nase war der konzentrierte Duft von allem, woran sie dachte, wenn sie das Meer vor sich sah. Gischt, Wellen, Brandung, Quallen, Salz, Korallen und sich tummelnde Fische. Weite und Unendlichkeit.
    »Meer«, sagte sie wehmütig. Das Meer konnte man essen!
    »Ya. Ar Mor«, sagte er kehlig lachend, kratzte mit dem Austernmesser den Rest des hellen Muskelstücks ab und reichte ihr die Schale erneut.
    Ar Mor. Jede Auster war wie das Meer. Jenes Meer, dachte sich der junge Mann, das jeder im Herzen trug, weit und frei, wild oder sanft, zartblau oder schwarz. Eine Auster war nicht nur eine Delikatesse. Eine Auster war der Schlüssel zu dem Traum vom Meer, den jeder in sich barg. Die, die sich nicht in seine Umarmung hineinwerfen wollten, die die Weite seines Horizonts und seine Tiefen, seine Leidenschaft, seine Unberechenbarkeit fürchteten – die würden niemals an einer Auster Gefallen finden. Sie würde sie ekeln. So wie die Liebe sie ekelte, die Leidenschaft und das Leben, der Tod, und alles, was das Meer bedeutete.
    »Merci«, sagte Marianne. Ihre Fingerspitzen berührten einander, als er ihr die Austernschale aus der Hand nahm.
    Du hättest mein Sohn sein sollen, dachte Marianne plötzlich. So einen wie dich hätte ich gern gehabt. Ich hätte mit dir zu Opern getanzt. Ich hätte dir Liebe gegeben, damit auch du lieben kannst.
    Als sie mit ihrem Teller und dem Wasserglas voll Muscadet unter den Buchen über der Bucht saß, das Meer in naher Ferne, und es Auster um Auster aß und trank, dachte Marianne an den Tod.
    War er wirklich nichts Absolutes, wie Clara gesagt hatte? War er wie diese Seite der Welt, nur mit mehr Feen und Dämonen?
    Ein Spatz setzte sich auf Mariannes Tisch und klaute ihre Butter.

8
    J e näher der Bus Pont-Aven kam, desto mehr wünschte Marianne sich, er würde langsamer fahren. Sie hatte Angst, dass sie bei der nächsten Telefonzelle aussteigen und Lothar anflehen würde, sie nach Hause zu holen.
    Als der Bus vor der Keksfabrik hielt, schlich sich Marianne diskret davon. Sie durchquerte Pont-Aven, ohne seinen Charme wahrzunehmen; ein pittoreskes Dorf, Galerien, Crêperien und Häuser, die aus dem achtzehnten Jahrhundert zu stammen schienen. Hier legte sich die Vergangenheit als Grundierung unter die Gegenwart. Marianne folgte dem Fluss, der sich durch das Dorf wand, bis sie nach dem Hotel Mimosa den Wald des Künstlerstädtchens erreicht hatte.
    Sechs Komma drei Kilometer bis nach Kerdruc besagte ein kleines Schild, es wies den Wanderweg GR 34 aus. Sechstausend Meter noch. Vielleicht zwölftausend Schritte. Das war nichts.
    Marianne war in Celle viel zu Fuß gegangen. Sie war sich wie ein Vogel vorgekommen, der pausenlos ausflog, um hier und da etwas aufzupicken. Lothar ließ ihr nie den Wagen. »Zu wenig Fahrpraxis«, sagte er lakonisch und »Du kriegst eh keinen Parkplatz«. Er kaufte nie ein, er wird sich jetzt zwischen den Regalen verlaufen, dachte sie, ein Feldherr verloren zwischen Büchsen, Tampons und Teebeuteln.
    Wieder hob sie instinktiv ihre Hand zum Mund. Wie garstig ihre Gedanken waren.
    Die Luft roch nach Schlick und nach angewärmtem Waldboden. Sie nahm einen zarten Pilzduft wahr. Vielleicht schaffte sie es, bis
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