Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mission des Zeichners

Die Mission des Zeichners

Titel: Die Mission des Zeichners
Autoren: Robert Goddard
Vom Netzwerk:
das Ticken einer Standuhr die bleiernen Minuten. Spandrel setzte sich vor das Feuer, stand wieder auf und betrachtete die Gemälde, setzte sich wieder, erhob sich erneut. Und ständig hielt er die Tasche fest in der Hand.
    Zwanzig Minuten krochen dahin. Spandrel hatte kaum noch Hoffnung, dass de Vries sich auch nur für kurze Zeit von seinen Geschäften losmachen könne. Verdrießlich stand er in der Mitte des Raumes und begutachtete seine Reflexion im Spiegel. Ein so scharfes, deutliches Abbild seiner selbst hatte er seit Monaten nicht mehr gesehen. Die schweren Zeiten hatten unbestreitbar ihre Spuren hinterlassen. Er sah älter aus, seine Schultern hingen mittlerweile schlaff herunter, und wenn er seine Haltung nicht korrigierte, würde er bald dauerhaft gebückt gehen. Sogleich richtete er sich auf - mit ermutigendem Effekt. Freilich war das auch schon alles: ein Effekt. Nichts, was von Dauer sein konnte. Als hätte er sich das schon längst selbst eingestanden, ließ er die Schultern wieder sinken.
    Im selben Moment ging die Tür auf, und eine dunkelhaarige junge Frau in blauem Kleid trat ein. »Entschuldigen Sie«, sagte sie mit englisch klingendem Akzent, »ich wusste nicht, dass...«
    »Verzeihung, Madam.« Spandrel drehte sich zu ihr um und brachte eine Verbeugung zustande. »Ich bin aufgefordert worden, hier auf Mijnheer de Vries zu warten.«
    »Dann müssen Sie vielleicht noch lange warten. Mein Mann ist im Ostindien-Haus. Ich erwarte ihn nicht vor sechs Uhr zurück.«
    Verwirrt nahm Spandrel zur Kenntnis, dass diese Frau de Vries' Gattin war. Sie konnte nicht viel älter als fünfundzwanzig sein, doch Sir Theodore hatte de Vries als einen Mann von ungefähr seinem Alter beschrieben, sodass Mrs. de Vries mindestens dreißig Jahre jünger sein musste als er. Und was das Ganze noch schlimmer machte, sie war ausgesprochen attraktiv. Zugegeben, eine klassische Schönheit war sie nicht - dafür war ihre Nase etwas zu lang und die Stirn zu breit. Aber ihre Anmut und ihr frischer Gesichtsausdruck ließen solche Überlegungen schnell in Vergessenheit geraten. Das blaue Kleid brachte ihr Haar und ihre Augen vorzüglich zur Geltung. Um ihre Lippen spielte der Ansatz eines Lächelns. Die Augenbrauen waren leicht gewölbt. Um den Hals trug sie eine einfache Perlenkette, und die Brust zierte eine Schleife aus weißem Samt. Nachdem er so lange an die weibliche Gesellschaft des Cat and Dog Yard gekettet gewesen war, hatte Spandrel ganz vergessen, wie bezaubernd die Anwesenheit einer gut gekleideten und kultivierten Frau sein konnte. Und selbst Maria Chesney hatte etwas gefehlt, das Mrs. de Vries ganz offensichtlich besaß: Vertrauen in die eigene Weiblichkeit, das ihre Ehe mit diesem griesgrämigen alten Geizhals, der de Vries, wie Spandrel urplötzlich schloss, ganz gewiss war, nicht so sehr zu einer Travestie, sondern zu einer Tragödie geraten ließ.
    »Sind Sie von weit gekommen, um meinen Mann zu sprechen, Mr.... ?«
    »Spandrel, Madam. William Spandrel.«
    »Aus England vielleicht?«
    »Genau.«
    »Es ist immer ein Vergnügen, eine englische Stimme zu hören. Sie werden natürlich schon erraten haben, das ich nur durch meine Ehe Holländerin bin. Mein Mann spricht ein vorzügliches Englisch. Wie die meisten in unserem Haushalt. Aber...« Ihre Stimme erstarb und sie verfiel in nachdenkliches Schweigen.
    »Ich habe Mr. Zuyler kennen gelernt.«
    »Sehen Sie, da haben wir's. Ein treffendes Beispiel für fließendes Englisch. Aber fließend ist nicht unbedingt authentisch, nicht wahr?« Sie lächelte.
    »Nein«, antwortete Spandrel zögernd. »Wahrscheinlich nicht.«
    »Wo ist Mr. Zuyler jetzt?«
    »Er ist Ihren Mann holen gegangen.«
    »Ihn holen gegangen? In der Annahme, dass er geholt werden will, richtig? Sie müssen ein wichtiger Mann sein, Mr. Spandrel.«
    »Das wohl kaum.«
    »Hat Ihnen niemand Tee angeboten?«
    »Ah, nein.«
    »Dann lassen Sie mich das nachholen.« Sie ging an ihm vorbei zum Glockenzug neben dem Kamin und zog kurz daran. »Wann sind Sie in Amsterdam angekommen?«
    »Heute Nachmittag. Mit einer Barke aus Haarlem.«
    »Dann werden Sie Tee dringend nötig haben.«
    »Danke«, sagte Spandrel mit einem vorsichtigen Lächeln. »Er wäre hoch willkommen.«
    »Nehmen Sie doch bitte Platz.«
    »Danke.« Noch im Reden merkte Spandrel, dass er sich wiederholte. Er setzte sich in den Sessel und stellte die Tasche widerstrebend vor sich auf dem Boden ab.
    Mrs. de Vries ließ sich ihm gegenüber auf dem Sofa
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher