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Die Merowinger - Zorn der Götter

Die Merowinger - Zorn der Götter

Titel: Die Merowinger - Zorn der Götter
Autoren: Robert Gordian
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lernte er Avitus kennen, der ihm nach seiner Flucht aus dem Reich der Westgoten barmherzig Unterschlupf gewährte. Infolge seines frommen Eifers rückte er rasch zu dessen Vertrauten auf. Der lebensfrohe Bischof von Vienne war auskunftsfreudiger als Remigius, und wenn er, was gelegentlich vorkam, einen Becher zu viel trank, gab er auch Einblicke in sein Heiligenleben. So erfuhr Chundo, dass jene berühmte Tränenflut, die den Großbrand löschte, tatsächlich einer Quelle hinter der Kirche entsprungen war, der seine Helfer das Wasser entnahmen, während Avitus weinend vor dem Altar lag.
    Dreierlei brauche man für ein Wunder, behauptete der heilige Mann: Erstens große Aufmerksamkeit, zweitens ergebene und verschwiegene Helfer, drittens eine bewegliche Zunge. Und einmal machte er bei einer solchen Gelegenheit sogar die unerhörte Bemerkung: »Oder glaubst du, Chundo, dass unser Herr Jesus Christus auf der Hochzeit zu Kanaa Wasser hätte in Wein verwandeln können, wenn seine Jünger die vollen Weinschläuche nicht unterm Mantel versteckt gehabt hätten?«
    Solche Reden fielen bei Chundo auf fruchtbaren Boden. Er begriff, dass Wunder machbar waren und dass der Unterschied zu gemeinen Taschenspielertricks vor allem in der Persönlichkeit der Ausführenden lag, die den Vorgängen einen sakralen Anstrich zu geben verstanden. Nicht das Wunderbare an sich, sondern die Fähigkeit, es in den Dienst des Glaubens zu stellen, war entscheidend.
    Bald zweifelte Chundo nicht mehr, dass auch er eine solche Persönlichkeit sein könnte. Von da an wartete er auf die große Gelegenheit, damit sein Eintritt in die Schar der Auserwählten nicht etwa geräuschlos vor sich ging. Die Hochzeit eines Königs war gerade das Richtige.
    Lange grübelte der Diakon über der Ausführung seines Planes. Vor allem die Art des zu vollbringenden Wunders machte ihm Kopfzerbrechen.
    In Gedanken ging er alle Schriften über heilige Männer und Frauen durch, die er je gelesen hatte, doch fand er kein geeignetes Präzedens. Sollte er nach der Methode des heiligen Petrus geräucherten Fisch von der Hochzeitstafel ins Wasser werfen und quicklebendig davonschwimmen lassen?
    Sollte er vor den Augen der Hochzeitsgesellschaft wie der heilige Martin von Tours eine Kuh vom bösen Geist befreien, damit sie vor ihm auf die Knie sank und ihm die Füße leckte?
    Sollte er wie ein anderer Heiliger, dessen Name ihm nicht einfallen wollte, aus den Schweinsköpfen, die auf den Tisch kamen, Goldstücke fallen lassen?
    Chundo verwarf das alles. Abgesehen von den Schwierigkeiten der Ausführung, vermisste er bei dergleichen Wundern das Erhabene, das Grandiose.
    Die Hochzeit stand nun bevor, und es war ihm noch immer nicht die Erleuchtung gekommen. Am liebsten hätte er seinen Einstand als Heiliger verschoben und auf die nächste Gelegenheit gewartet. Er bereute den Anfall von Eitelkeit, der ihn vor den königlichen Damen dazu verführt hatte, ein erfundenes Traumgesicht zu erzählen und das Wunder anzukündigen. Dummerweise war noch Remigius dazugekommen und ironischer Zeuge geworden.
    So sah sich der hagere Diakon auf fatale Weise genötigt, zumal, was hinzukam, sein Ansehen in diesen Tagen gesunken war. Dass er sich auf Befehl einer Frau während des Gottesdienstes festnehmen ließ und dass eine andere ihn befreien musste, hatte seiner Autorität geschadet. Nein, es gab kein Entrinnen – es musste ein Wunder her!
    Und er hatte dann schließlich doch noch eine glückliche Eingebung. Sie kam ihm bei der Erinnerung an die noch nicht lange zurückliegende Zeit, als er sich unstet im Lande umhertrieb. Da hatte er sich oft genug als Vogelsteller seine Nahrung beschafft, hatte mit dem Schlagnetz am Vogelherd gelauert und die Leimrute mit dem Saft der Mistelbeere bestrichen.
    Von einigen burgundischen Mönchen wusste er, dass sie ebenfalls in der Kunst des Vogelstellens Erfahrung hatten. Ansonsten waren es tumbe Burschen – genau die Sorte von Helfern, die er benötigte. Er gewann sie leicht, indem er ihnen erklärte, sie könnten sich vor der jungen Königin auszeichnen, wenn sie ihr zu ihrem Hochzeitstag Vögel fingen. Es müsse aber bis dahin in ihrer kleinen Gruppe ein Geheimnis bleiben. Zu viert zogen sie hinaus in den Wald und die Feldflur und konnten schließlich Körbe mit Drosseln, Gimpeln, Finken, Zeisigen und Grasmücken in einem Schuppen verstecken.
    Für sein Wunder benötigte Chundo noch einen weiteren Helfer. Dies war ein zwölfjähriger Knabe, der zu einer der
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