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Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Titel: Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
Autoren: Kai Meyer
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dass sie in der Tat schon im Wasser gesessen hatten, ehe Tiziano den Panzer vorhin fast zum Kentern gebracht hatte.
    »Haarrisse?« Tiziano patschte im trüben Wasser herum, als könnte er sie mit bloßen Fingern ertasten und verstopfen.
    Dario war mit einem Mal sehr ruhig. »Gut. Wir gehen also unter. Aber das da vorne ist Land… oder etwas Ähnliches. Und du, Unke, weißt, was genau es ist.«
    Sie nickte. »Wenn mich nicht alles täuscht, ist es ein Leichnam. Und zwar ein ganz besonderer. Die Meerjungfrauen haben ihn gewittert, deshalb sind sie fortgeschwommen. Sie fürchten sich.«
    »Ein… ein Leichnam?«, stammelte Tiziano. »Aber… dieses Ding ist mindestens… mindestens siebzig, achtzig Meter lang. Oder?« Als keiner eine Antwort gab, sagte er noch einmal, diesmal lauter: »Oder?«
    Sie trieben jetzt immer näher auf die hellgrauen Höcker zu. Und allmählich, ganz allmählich, erkannte Serafin einen Umriss.
    »Der Kadaver einer Meerhexe«, sagte Unke.
    Serafins Herz schlug schneller.
    »Meerhexe«, wiederholte Aristide, und jetzt war er es, der aufstehen wollte. Dario riss ihn mit solcher Gewalt zurück, dass Serafin kurz überlegte, ihn zurechtzuweisen.
    Er ließ es bleiben und wandte sich an Unke: »Wie lange noch?«
    Sie strich langsam mit der Rechten durch das Wasser im Inneren des Schildkrötenpanzers. »Drei Stunden. Vielleicht vier. Es sei denn, der Panzer bricht vorher auseinander.«
    »Können wir in der Zeit Land erreichen?«
    »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo wir sind.«
    Serafin nickte. Nichts von alldem vermochte ihn jetzt noch zu überraschen. »Wir müssen den Panzer also verlassen?«
    »Ja.«
    »Und auf dieses Ding klettern?«
    »Sie ist tot«, sagte Unke. »Sie kann keinem mehr etwas tun.«
    »Augenblick!« Dario rieb sich mit den Handflächen durch die Augen, massierte sich dann in langsamen Bewegungen die Schläfen. »Ihr schlagt allen Ernstes vor, wir sollen auf eine tote Meerhexe überwechseln?«
    Unke schnupperte in den Wind. »Sie ist noch nicht lange tot. Sie wird noch ein paar Tage treiben.«
    »Länger als drei, vier Stunden«, hörte Serafin sich beipflichten, auch wenn er selbst nicht fassen konnte, dass er sich auf diesen Irrsinn einließ.
    »Ich geh da nicht rauf,« stammelte Aristide.
    Tiziano sagte nichts. Wartete ab.
    »Ich geh ganz bestimmt nicht da rauf.« Aristides Stimme klang jetzt höher, fast panisch.
    »Sie kann uns nicht mehr gefährlich werden«, sagte Serafin beschwichtigend. »Und sie ist unsere einzige Hoffnung.«
    Tiziano kam ihm zu Hilfe. »Stell dir vor, es wäre ein toter Fisch. Dann würdest du ihn vielleicht sogar essen.«
    Aristide starrte Tiziano einen Moment lang fassungslos an, dann verzerrten sich seine Züge, und seine Stimme war ein schrilles Heulen. »Ihr seid ja alle völlig verrückt! Völlig wahnsinnig!«
    Dario schenkte ihm keine Beachtung. »Die Strömung treibt uns genau darauf zu. Noch ein paar Minuten.« Als Aristide abermals protestieren wollte, brachte Dario ihn mit einem Blick zum Schweigen, der andere hätte zu Stein werden lassen. Seine Augen verengten sich, als er wieder zum treibenden Leichnam der Meerhexe hinübersah. »Ist das da ihr Gesicht?«
    Alle starrten auf die Stelle, die er meinte.
    »Ja«, sagte Unke. Sie wurde schlagartig blass und sagte nichts mehr. Niemand außer Serafin bemerkte es. Aber er stellte keine Fragen mehr; dafür war Zeit, wenn sie sicher auf dem Kadaver saßen.
    Der Wind drehte, und von einem Atemzug zum nächsten stank es so erbärmlich wie auf dem venezianischen Fischmarkt an einem Sommertag.
    Die Hexe trieb auf dem Rücken. Soweit Serafin es von hier aus erkennen konnte, besaß sie den Körper einer riesenhaften alten Frau - bis hinab zu den Hüften. Dort ging ihr Leib in einen mächtigen Fischschwanz über, wie ihn auch die Meerjungfrauen besaßen, nur dass jener der Hexe so lang war wie ein Schiff. Ihr Haar trieb wie ein grauer Algenteppich auf den Wogen, fächerförmig ausgebreitet. Sie würden Acht geben müssen, dass sich der Schildkrötenpanzer nicht darin verfing; falls sie gezwungen wären, die sinkende Hornschale inmitten dieser Haarflut zu verlassen, würden sie sich hoffnungslos in den langen Strähnen verheddern und ertrinken.
    Serafin äußerte seine Bedenken laut, und gleich darauf bemühten sich alle, mit den Händen zu rudern und den Schildkrötenpanzer in eine andere Richtung zu steuern, hinab zum Schuppenschwanz, wo es am einfachsten sein würde, die Meerhexe zu erklimmen.
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