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Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin

Titel: Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
Autoren: Kai Meyer
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nicht, um hier zu wohnen. Inseln wie diese waren kleine Splitter Niemandsland, und ihre Herrin war allein die schäumende See.
    Vor dem Boot wurde die Mündung eines schmalen Wasserarmes sichtbar, der gewunden ins Innere der Insel führte. Zu beiden Seiten standen die Bäume dicht an dicht, sie berührten mit ihren Zweigen das Wasser. Eine Vielzahl von Vögeln saß in den Ästen. Einmal, als Arcimboldo sein Ruder eine Spur zu heftig eintauchte, explodierten Möwen aus dem Unterholz und flatterten hektisch über den Wipfeln.
    Nach einer letzten Biegung mündete der Wasserarm in einen kleinen See. Er bildete das Herz der Insel. Serafin hätte sich gern vorgebeugt, um zu sehen, wie tief das Wasser war, doch das Risiko war ihm zu hoch. Arcimboldo mochte in Gedanken versunken sein, doch er war gewiss nicht blind.
    Der Spiegelmacher ließ den Bootskiel sanft auf Grund laufen. Knirschend scharrte der Rumpf über Sand. Arcimboldo legte das Ruder ab und ging an Land.
    Serafin erhob sich, gerade weit genug, um über die Reling ans Ufer zu schauen. Der Spiegelmacher hockte vor der Wand des Dickichts. Mit dem Zeigefinger zeichnete er etwas in den Sand. Dann stand er auf, teilte mit den Händen das Unterholz und verschwand darin.
    Blitzschnell schüttelte Serafin die Decken ab und verließ das Boot. Er machte einen Bogen um die fremdartigen Zeichen, die Arcimboldos Finger im Sand hinterlassen hatten, und tauchte zwischen den Pflanzen in feuchtes Dämmerlicht. Er konnte Arcimboldo noch immer sehen, ein vager Schemen hinter Blättern und Zweigen.
    Nach wenigen Schritten entdeckte er das Ziel des Spiegelmachers. Auf einer Lichtung ragten die Ruinen eines Gebäudes empor, dem Anschein nach das Lustschlösschen eines venezianischen Edelmanns. Jetzt standen nur noch die Grundmauern, tiefschwarz vom eingebrannten Ruß einer Feuersbrunst, die das Anwesen vor langer Zeit in Schutt und Asche gelegt hatte. Längst hatte die Pflanzenwelt begonnen, ihr Reich zurückzuerobern: Breite Rankenfächer waren an den Steinen emporgeklettert; Gras wuchs auf gezahnten Mauerkronen; ein Baum lehnte sich aus einer Fensterhöhle wie ein Gerippe mit grüßend ausgestreckten Knochenarmen.
    Arcimboldo näherte sich der Ruine und verschwand im Inneren. Serafin zögerte noch, dann huschte er aus seinem Versteck und ging hinter einer Mauer in Deckung. Gebückt schlich er daran entlang zu einer ausgebrannten Fensteröffnung. Vorsichtig hob er den Kopf, bis er gerade eben über den Rand schauen konnte.
    Das Innere der Ruine war ein verworrenes Labyrinth aus hüfthohen Mauerresten. Ungewöhnlich viel Gestein war abgetragen, etliche Wände ganz und gar umgestürzt. Die alten Ziegelsteine bildeten Hügel, aus denen wucherndes Unkraut spross. Ein normales Feuer wäre nicht stark genug, um eine derartige Verwüstung anzurichten. Das hier sah eher nach den Folgen einer Explosion aus.
    Arcimboldo schritt durch die Ruine und sah sich immer wieder aufmerksam um. Serafin beunruhigte der Gedanke, dass sich weitere Menschen auf der Insel aufhalten könnten. Was, wenn sie ihn bemerkten? Möglich, dass man ihn dann hier zurückließ, fernab von allen Bootsrouten im Zentrum der Lagune.
    Arcimboldo bückte sich und schrieb abermals etwas mit dem Finger auf den Boden. Er drehte sich dabei einmal um sich selbst, bis die Zeichen im Staub einen Kreis bildeten. Erst dann richtete er sich wieder auf, dem Mittelpunkt der Ruine zugewandt.
    »Talamar«, rief er aus.
    Serafin kannte das Wort nicht. Möglich, dass es sich um einen Namen handelte.
    »Talamar!«, wiederholte Arcimboldo. »Dem Wunsch ist entsprochen, der Zauber gewirkt, der Pakt erfüllt.« Es klang wie eine Formel, wie ein Zauberspruch. Serafin bebte vor Aufregung und Neugier.
    Dann bemerkte er den Schwefelgeruch.
    »Talamar!«
    Der Gestank wehte aus der Ruine herüber. Ursprung war eine Stelle, die hinter schwarzen Mauerstümpfen verborgen lag.
    Ein Zischen ertönte. Serafin huschte los, entlang der Außenmauer, bis er an ein Fenster kam, von dem aus er eine bessere Sicht auf den Quell des Gestanks hatte.
    Es war ein Loch im Boden, ähnlich einem Brunnen. Der Rand war unregelmäßig aufgeworfen wie bei einem Krater. Hier musste damals die Detonation stattgefunden haben, die das Gebäude zerstört hatte. Serafin konnte nicht erkennen, wie tief die Öffnung in den Boden reichte. Das Zischen wurde lauter. Etwas kam näher.
    Arcimboldo verbeugte sich. »Talamar«, sagte er noch einmal, jetzt nicht mehr als Ruf, sondern als
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