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Die Menschenleserin

Die Menschenleserin

Titel: Die Menschenleserin
Autoren: Jeffery Deaver
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beerdigt.«
    »Ist der Boden geweiht?«
    »Ich weiß es nicht, aber ich nehme es an.«
    »Falls nicht, könnten Sie dann eine geeignete Stelle für ihn suchen? Eine anständige Ruhestätte? Ich übernehme die Kosten.«
    Für den Mann, der versucht hatte, sie zu ermorden?
    »Ich kümmere mich darum.«
    »Danke.«
    In diesem Moment kam ein dunkelblauer Acura in verwegenem Tempo die Zufahrt heraufgerast und hielt mit quietschenden Reifen ganz in der Nähe. Das alles geschah so plötzlich, dass Dance sich duckte und erschrocken nach ihrer Waffe griff.
    Doch gleich darauf entspannte sie sich wieder, denn aus dem Wagen stieg Samantha McCoy und gesellte sich zu ihnen. »Wie fühlst du dich?«, fragte sie Linda.
    »Ich stehe unter Medikamenten. Morgen wird es vermutlich nicht mehr so angenehm sein. Nun ja, wohl noch einen Monat lang.«
    »Du wolltest abreisen, ohne auf Wiedersehen zu sagen?«
    »Nein, wie kommst du denn darauf? Ich hätte dich angerufen.«
    Dance erkannte die Notlüge sofort. Samantha wahrscheinlich auch.
    »Du siehst gut aus.«
    Was Linda ein weiteres undeutliches Kichern entlockte.
    Stille. Tiefe Stille; der Nebel verschluckte sämtliche Umgebungsgeräusche.
    Samantha stemmte die Hände in die Seiten und sah zu Linda hinunter. »Das waren ein paar merkwürdige Tage, was?«
    Die Frau stieß ein kurioses Lachen aus, das sowohl benebelt als auch vorsichtig klang.
    »Linda, ich würde dich gern mal anrufen. Wir könnten uns treffen.«
    »Warum? Damit du mich psychoanalysieren kannst? Um mich aus den Klauen der Kirche zu retten?« Die Worte trieften vor Verbitterung.
    »Ich möchte dich einfach sehen. Mehr als das muss es gar nicht sein.«
    »Sam, du und ich, wir waren schon vor acht, neun Jahren verschiedene Menschen«, sagte Linda, die sich dafür sichtlich konzentrieren musste. »Heute sind die Unterschiede zwischen uns sogar noch größer. Wir haben nichts gemeinsam.«
    »Nichts gemeinsam? Aber das stimmt nicht. Wir sind gemeinsam durch die Hölle gegangen.«
    »Ja, das sind wir. Und Gott hat uns hindurchgeholfen und uns dann in verschiedene Richtungen weitergeschickt.«
    Samantha ging in die Hocke und nahm mit Rücksicht auf die Wunde behutsam den Arm der Frau. Sie befand sich nun mitten in Lindas persönlichem Proximalbereich. »Hör mir gut zu … Hörst du mir zu?«
    »Was ist?« Ungehalten.
    »Es gab da mal einen Mann.«
    »Einen Mann?«
    »Hör einfach zu. Dieser Mann war in seinem Haus, und es kam zu einem wirklich schlimmen Hochwasser. Der Fluss stieg bis ins Erdgeschoss, und ein Boot fuhr vorbei, um den Mann zu retten, aber er sagte: ›Nein, fahrt weiter, Gott wird mich retten.‹ Er ging in den ersten Stock, doch das Wasser stieg auch bis dorthin. Noch ein Boot kam vorbei, aber er sagte wieder: ›Nein, fahrt weiter, Gott wird mich retten.‹ Dann stieg das Wasser noch höher an, und er kletterte aufs Dach. Ein Hubschrauber kam angeflogen, aber der Mann sagte immer noch: ›Nein, fliegt weiter, Gott wird mich retten.‹ Und der Hubschrauber flog weg.«
    »Was redest du da?«, fragte Linda mit schwerer Zunge.
    Sam fuhr unbeirrt fort. »Schließlich spülte das Wasser ihn vom Dach, und er ertrank. Als er in den Himmel kam, sah er Gott und fragte ihn: ›Gott, warum hast du mich nicht gerettet?‹ Und Gott schüttelte den Kopf und erwiderte: ›Komisch, ich weiß auch nicht, was da schiefgelaufen ist. Ich habe dir zwei Boote und einen Hubschrauber geschickt.‹«
    Dance lächelte. Linda nahm die Pointe verwundert zur Kenntnis und hätte am liebsten wohl auch gelächelt, schien es sich aber zu verkneifen.
    »Komm schon, Linda – wir sind füreinander die Hubschrauber. Gib es doch zu.«
    Die Frau sagte nichts.
    Sam drückte ihr eine Visitenkarte in die Hand. »Hier hast du meine Nummer.«
    Linda starrte die Karte an und schwieg lange. »Sarah Starkey?«, fragte sie dann. »Ist das dein Name?«
    Samantha lächelte. »Ich kann ihn derzeit noch nicht zurückändern. Aber ich werde es meinem Mann erzählen. Alles. Er ist mit unserem Sohn hierher unterwegs. Wir bleiben ein paar Tage in der Gegend. Wenigstens hoffe ich das. Es könnte nämlich sein, dass er in den Wagen steigt und wieder nach Hause fährt, sobald ich mich ihm anvertraut habe.«
    Linda entgegnete nichts darauf. Sie schnippte mit dem Daumen gegen die Karte und schaute einem verbeulten silbernen Pick-up entgegen, der die Zufahrt heraufkam. Der Wagen hielt an, und Roger Whitfield stieg aus.
    Samantha stellte sich ihm vor und benutzte dabei
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