Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mayfair-Hexen

Die Mayfair-Hexen

Titel: Die Mayfair-Hexen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
der Schwerter, sah die Gestalten, die auf den Wald zustürzten. Rauch stieg auf von Rundtürmen und Hütten… Unmöglich, daß dies hatte passieren können!
    Die Waffen änderten sich, die Regeln änderten sich. Aber d a von abgesehen blieben die Massaker die gleichen. Er lebte jetzt seit fünfundsiebzig Jahren auf diesem Kontinent, kehrte immer einen, zwei Monate nach seiner Abreise wieder dorthin zurück, aus vielen Gründen, nicht zuletzt, weil er nicht in der Nähe der Flammen sein wollte, des Rauches, der Qualen, der schrecklichen Verwüstungen des Krieges.
    Die Erinnerung an das Glen verlor sich nicht. Andere Erinnerungen hingen damit zusammen – grüne Felder, wilde Blumen, Hunderte und Aberhunderte von winzigen blauen Wildblumen. Mit einem kleinen Holzboot befuhr er den Fluß, und die Soldaten standen auf den hohen Festungsmauern; ah, was diese Geschöpfe nur taten – türmten Stein auf Stein und schufen ihre eigenen, mächtigen Berge! Aber was waren denn seine eigenen Monumente, die großen Steine, die Hunderte über die Ebene schleiften, um den Kreis zu bauen?
    Die Höhle, auch die sah er wieder, als würden plötzlich ein Dutzend lebendige Fotos vor ihm ausgebreitet, und gerade noch rannte er die Klippe hinunter, rutschte aus, stürzte beinahe, und im nächsten Moment stand Samuel da und sagte: »Laß uns von hier fortgehen, Ash. Warum kommst du her? Was gibt es da zu sehen oder zu lernen?«
    Er sah die Taltos mit dem weißen Haar.
    »Die Weisen, die Guten, die Wissenden«, so hatten sie sie genannt. »Alt« hatten sie nicht gesagt. Es wäre kein Wort g e wesen, das sie in jener Zeit benutzt hätten, als der Frühling auf der Insel warm war und die Früchte von den Bäumen fi e len. Selbst als sie ins Glen gekommen waren, hatten sie das Wort »alt« nicht benutzt, aber jeder hatte gewußt, daß diese am längsten gelebt hatten. Die mit den weißen Haaren kan n ten die längsten Geschichten…
    Und wie lange, dachte er, wie viele Jahrzehnte würde es noch dauern, bis seine eigenen Haare ganz weiß wären?
    Nun, nach allem, was er wußte, konnte das schon sehr bald der Fall sein. Die Zeit selbst hatte damals nichts bedeutet. Und weibliche Weißhaarige hatte es so wenige gegeben, weil das Gebären sie jung dahinwelken ließ. Auch darüber sprach niemand, aber jeder wußte es.
    Die männlichen Weißhaarigen waren kraftvoll gewesen, liebeslustig, herzhafte Esser und bereitwillige Weissager. Aber die weißhaarige Frau war gebrechlich gewesen. Das hatte das Gebären ihr angetan.
    Furchtbar, sich an all diese Dinge zu erinnern, so plötzlich, so klar. Verband sich vielleicht noch ein magisches Geheimnis mit dem weißen Haar? Daß es einen dazu brachte, sich von Anfang an zu erinnern? Nein, das war es nicht; es war nur so, daß er sich in all den Jahren, in denen er nicht gewußt hatte, wie lange es noch dauern würde, immer vorgestellt hatte, er werde den Tod mit offenen Armen begrüßen, und jetzt war ihm gar nicht danach zumute.
    Sein Wagen hatte den Fluß überquert und jagte dem Flughafen entgegen. Er war groß und schwer und schmiegte sich an den schlüpfrigen Asphalt, und er hielt gleichmäßig gegen den peitschenden Wind.
    Und immer weiter purzelten die Erinnerungen. Er war alt g e wesen, als die Reiter auf die Ebene herabgeritten waren. Er war alt gewesen, als er die Römer auf den Befestigungen des Antoniuswalls gesehen und als er von St. Columbas Tür auf die hohen Klippen von Iona hinuntergeschaut hatte.
    Kriege. Warum gingen sie ihm nie aus dem Kopf, sondern wa r teten dort in ihrer ganzen Pracht, gleich neben den süßen Erinnerungen an die, die er geliebt hatte, an das Tanzen im Glen, an die Musik? Die Reiter, wie sie auf das Grasland h e rabkamen, eine dunkle Masse, die sich ausbreitete wie Tinte auf einem friedlichen Gemälde, und dann das leise Brüllen, das gerade noch an ihre Ohren drang, und der Anblick des Rauchs, der in endlosen Wolken von ihren Pferden aufstieg.
    Er schrak aus dem Schlaf.
    Der Wagen hielt, und er mußte kräftig gegen die Tür drücken. Der Fahrer stürzte heran, um ihm zu helfen, als der Wind ihm den Schnee entgegenwehte.
    Trotzdem war der Schnee so hübsch und so sauber, bevor er den Boden berührte. Als er sich gestreckt hatte, spürte er für einen Augenblick eine gewisse Steifheit in den Gliedern, und dann hob er die Hand, damit ihm die weichen, feuchten Flo c ken nicht in die Augen fielen.
    »Es ist eigentlich gar nicht so schlimm, Sir«, meinte Jacob. »In einer
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher