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Die Loge

Die Loge

Titel: Die Loge
Autoren: Daniel Silva
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Doch als die Herrscher Venedigs Jahrhunderte später einen Ort suchten, an dem sie die wachsende Zahl unerwünschter Juden zusammenpferchen konnten, erschien ihnen das sogenannte Ghetto Nuovo ideal. Dieses Gebiet war groß und hatte keine eigene Pfarrkirche. Die Kanäle, von denen es umschlossen war, bildeten einen natürlichen Wassergraben, der die Insel von den benachbarten Gemeinden abschnitt, und die einzige Brücke konnte von christlichen Wachen kontrolliert werden. Im Jahr 1516 wurden die Christen von Ghetto Nuovo umgesiedelt, und die Juden Venedigs wurden gezwungen, ihren Platz einzunehmen. Sie durften das Ghetto erst nach Sonnenaufgang verlassen, wenn die Glocke im Campanile läutete, und mußten dabei einen gelben Mantel und einen gleichfarbigen Hut tragen. Bei Sonnenuntergang hatten sie wieder auf der Insel zu sein, und das Tor wurde abgesperrt. Nur jüdische Ärzte durften nachts das Ghetto verlassen. Ihren Höchststand hatte die Bevölkerung des Ghettos mit über fünftausend Menschen erreicht. Jetzt beherbergte es nur zwanzig Juden.
    Der Restaurator überquerte eine stählerne Fußgängerbrücke. Vor ihm ragte ein Ring aus für Venedig ungewöhnlich hohen Wohntürmen auf. Er betrat einen sottopassaggio, folgte der Unterführung unter den Apartmenthäusern hindurch und kam wenig später auf einem Platz, dem Campo di Ghetto Nuovo, wieder ans Tageslicht. Ein koscheres Restaurant, eine jüdische Bäckerei, eine Buchhandlung, ein Museum. Hier gab es auch zwei alte Synagogen, die aber buchstäblich unsichtbar waren, wenn man nicht wußte, wonach man Ausschau zu halten hatte. Nur die fünf Fenster im ersten Stock beider Gebäude – das Symbol für die fünf Bücher Mose – verrieten sie.
    Ein halbes Dutzend Jungen spielte zwischen den Pfützen und den langen Schatten Fußball. Der Ball sprang auf den Restaurator zu. Er traf ihn kräftig mit dem Innenrist des rechten Fußes und schickte ihn gekonnt ins Spiel zurück. Einer der Jungen stoppte den Ball mit der Brust. Es war der Lockenkopf, der an diesem Morgen in der Kirche San Zaccaria gewesen war.
    Das Kind deutete mit dem Kopf auf den pozzo, den Brunnen in der Mitte des Platzes. Der Restaurator wandte sich dorthin und sah eine vertraute Gestalt auf dem Brunnenrand sitzen und eine Zigarette rauchen. Grauer Kaschmirmantel, fest um den Hals geschlungener grauer Schal, runder Schädel. Das Gesicht des Mannes war tief gebräunt und voller Risse und Falten wie ein seit Jahrmillionen von Wind und Sonne bearbeiteter Wüstenfels. Seine Nickelbrille mit den runden Gläsern war unbeabsichtigt modern. Sein Gesicht hatte einen ewig ungeduldigen Ausdruck.
    Als Mario Delvecchio näher kam, hob der Alte den Kopf, und seine Lippen verzogen sich zu etwas, das zwischen einem Lächeln und einer Grimasse lag. Er faßte den Restaurator am Arm und schüttelte ihm mit eisenhartem Griff die Hand. Dann küßte er ihn zärtlich auf die Wange.
    »Du bist wegen Benjamin hier, oder?«
    Der Alte schloß kurz die faltigen Lider und nickte. Dann hakte er zwei kurze, dicke Finger in die Ellbogenbeuge des Restaurators und sagte: »Komm, gehen wir.« Der Restaurator wehrte sich einen Augenblick dagegen, mitgezogen zu werden, aber der Alte ließ nicht locker. In der Familie hatte es einen Toten gegeben, und Ari Schamron war noch nie der Typ gewesen, der die Hände in den Schoß legte.
    Seit Gabriel ihn zuletzt gesehen hatte, war ein Jahr vergangen. In diesem Zeitraum war Schamron sichtlich gealtert. Als sie in der herabsinkenden Abenddämmerung eine Runde um den Platz machten, mußte Gabriel der Versuchung widerstehen, den Alten zu stützen. Schamrons Wangen waren eingefallen, und die stahlblauen Augen – deren Blick einst Feinde, aber auch Verbündete in Angst und Schrecken versetzt hatte – waren trübe geworden und tränten. Als er seine türkische Zigarette an die Lippen hob, zitterte seine rechte Hand.
    Diese Hände hatten Schamron zu einer lebenden Legende gemacht. Kurz nachdem er in den fünfziger Jahren in den Dienst eingetreten war, war seinen Vorgesetzten aufgefallen, daß dieser gewöhnlich aussehende junge Mann ungeheuer kräftige Hände besaß. Er wurde für Entführungen auf offener Straße und lautloses Töten ausgebildet und ins Ausland geschickt. Er bevorzugte die Garotte und benützte sie auf dem Pflaster europäischer Städte ebenso effizient wie in den finsteren Gassen von Kairo und Damaskus. Er tötete arabische Spione und Generale. Er tötete Nazi-Wissenschaftler, die
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