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Die Lilie im Tal (German Edition)

Die Lilie im Tal (German Edition)

Titel: Die Lilie im Tal (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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in diesen weiten Wiesen, über denen der warme, dunstige Himmel sich wölbt, freundliche Fabriken, dann werden Sie eine Vorstellung haben von den tausend landschaftlichen Schönheiten dieses Landes. Ich folgte dem Wege nach Saché auf dem linken Flußufer, behielt aber die Hügel auf dem andern Ufer aufmerksam im Auge. Und endlich gelangte ich an einen Park mit uralten Bäumen, der mir die Nähe des Schlosses Frapesle verriet. Ich kam gerade an, als die Glocke zum Mittagessen rief. Nach Tisch ließ mich mein Gastgeber, der nicht vermutete, daß ich von Tours zu Fuß gekommen sei, die Umgebung durchstreifen, wo ich allenthalben das Tal in seiner mannigfachen Schönheit betrachten konnte; bald sah ich nur einen Ausschnitt, bald das ganze Bild. Oft hefteten sich meine Blicke auf das flüssige Gold der Loire am Horizont, wo weiße Segel phantastische Gestalten annahmen, die vom Winde auseinandergetrieben wurden. Ich erklomm einen Hügel und bewunderte von dort zum erstenmal das Schloß von Azay: es schien mir ein geschliffener Diamant mit vielen Facetten, den die Indre einfaßte, den blumenverdeckte Pfeiler trugen. Dann sah ich in einem Talgrund den massiven Bau des romantischen Schlosses von Saché, ein schwermütiges Stück Erde, vollkommen in seiner Traurigkeit, zu ernst für den oberflächlichen Beschauer und nur dem Dichter teuer, dessen Herz krank ist. Wie lernte ich später seinen Frieden lieben, die großen kahlen Bäume und das geheimnisvolle Etwas, das in seinem Tale wob. Aber jedesmal, wenn ich wieder auf dem Abhang des benachbarten Hügels das anmutige kleine Schloß erblickte, das meine Augen gleich angezogen hatte, verweilten dort meine Gedanken und waren voll Liebe.
    »Aha«, sagte mein Gastgeber, der in meinen Blicken einen jener feurigen Wünsche las, die sich in meinem Alter so naiv äußern, »Sie riechen von weitem eine hübsche Frau, wie ein Hund Wild wittert.«
    Die Äußerung gefiel mir nicht; aber ich fragte nach dem Namen des Schlosses und dem des Eigentümers.
    »Das ist Clochegourde«, antwortete er, »ein hübsches Haus, das dem Comte de Mortsauf gehört, dem Sproß einer alten Adelsfamilie der Touraine, die auf Ludwig XI. zurückgeht und deren Name auf das seltsame Ereignis hinweist, dem sie Ruhm und Wappen verdankt. Der Comte stammt von einem, der dem Galgen entrann. Deshalb führen die Mortsauf im Wappen auf Goldgrund ein schwarzes Kreuz aus übereinandergelegten Galgen und am Schnittpunkt eine goldene Lilie, darunter die Devise: »Gott schütze den König, unsern Herrn!« Der Comte hat sich nach der Rückkehr der Emigranten aus der Verbannung hier niedergelassen. Dies Besitztum gehört seiner Frau, einer geborenen von Lenoncourt, aus dem Geschlecht der Lenoncourt-Givry, das am Erlöschen ist. Madame de Mortsauf ist das einzige Kind. Die bescheidenen Vermögensverhältnisse dieser Familie stehen in so seltsamem Widerspruch mit dem Ruhm ihrer Namen, daß sie, aus Stolz oder vielleicht der Not gehorchend, Clochegourde nicht verläßt und niemand empfängt. Bisher konnte ihre Anhänglichkeit an die Bourbonen ihre Vereinsamung rechtfertigen; aber ich glaube nicht, daß die Rückkehr des Königs ihre Lebensweise irgendwie ändern wird. Als ich mich im vorigen Jahre hier niederließ, machte ich ihnen einen Anstandsbesuch; sie haben meinen Besuch erwidert und mich zu Tisch geladen. Der Winter hat uns mehrere Monate getrennt. Dann haben politische Ereignisse meine Rückkehr verzögert; ich bin erst seit kurzem wieder in Frapesle. Aber Madame de Mortsauf ist eine Frau, die überall den ersten Platz einnehmen könnte.« – »Kommt sie oft nach Tours?« – »Niemals! Das heißt: ja doch«, verbesserte er sich; »neulich war sie dort, bei der Durchreise des Duc d'Angoulême, der gegen Monsieur de Mortsauf sehr freundlich gewesen ist.« – »Sie ist's!« rief ich aus. »Wer: sie?« – »Eine Frau mit wunderbaren Schultern.« – »Sie werden in der Touraine viele Frauen mit schönen Schultern treffen«, sagte er lachend; »aber wenn Sie nicht müde sind, wollen wir über den Fluß hinüber nach Clochegourde gehen, dort können Sie versuchen, die bewußten Schultern wiederzuerkennen.«
    Ich nahm den Vorschlag, vor Freude und Scham errötend, an. Gegen vier Uhr erreichten wir das kleine Schloß, das meine Blicke schon so lange liebkost hatten. Das Gebäude, das sich in der Landschaft so stolz ausnimmt, ist in Wirklichkeit recht bescheiden. Es hat fünf Fenster Front. Die beiden Eckfenster der
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