Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Lilie im Tal (German Edition)

Die Lilie im Tal (German Edition)

Titel: Die Lilie im Tal (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
Vom Netzwerk:
Südfassade schieben sich um drei bis vier Ellen vor, und diese kunstvoll gebauten Erker erwecken die Vorstellung von Seitenflügeln und verleihen dem Ganzen einen besonderen Reiz. Das Mittelfenster dient als Tür, und durch die Glastür gelangt man über eine Doppelterrasse in die Gärten, die sich, sanft absteigend, bis zu einer schmalen Wiese längs der Indre hinziehen. Obwohl ein Gemeinweg diese Wiese von der untern, mit schattigen Akazien und japanischen Firnisbäumen bepflanzten Terrasse trennt, scheint sie von weitem doch zu den Gärten zu gehören; denn der Weg ist ein Hohlweg, den auf der einen Seite die Terrasse überragt und der auf der andern von einer lebenden Hecke eingesäumt ist. Durch die sanften Abhänge ist so viel Zwischenraum zwischen Haus und Fluß geschaffen, daß alle Unannehmlichkeiten allzu nahen Wassers beseitigt sind, die Vorzüge einer solchen Lage aber gewahrt bleiben. Im Erdgeschoß befinden sich Remisen, Ställe, Schuppen, Küchen mit rundbogigen Fensteröffnungen. Die Dächer sind an den Winkeln zierlich geschweift, von Mansarden mit geschnitztem Fachwerk belebt; bleierne Akroterien schmücken die Giebel. Das Dachwerk, das wahrscheinlich während der Revolution gelitten hat, ist mit rötlichbraunem Moos wie mit einer Rostkruste überwachsen. Über der großen Glastür der Terrasse ragt ein Türmchen; und hier findet sich das steingehauene Wappen der Blamont-Chauvry: vier Felder in Rot, in der Mittelsenkrechten das Pfahlfeld, rechts und links offene Handflächen in Gold und Inkarnat, die zwei sich kreuzende schwarze Speere halten. Darunter die Devise ›Seht's alle, keiner rühre dran!‹, machte auf mich tiefen Eindruck.... Das Wappen ruhte auf einem Greif und einem Drachen, die an goldener Kette lagen und hübsch gemeißelt waren. Die Revolution hatte die gräfliche Krone und die aus einer grünen Palme und goldenen Früchten bestehende Krönung beschädigt. Der Sekretär des Wohlfahrtsausschusses, Senart, war vor 1781 Dorfrichter von Sache gewesen. Das erklärt alles.
    Die ganze Anlage trägt dazu bei, dem Schloß ein vornehmes Gepräge zu geben. Es ist kunstvoll gearbeitet wie eine Blüte, die nicht viel Schwerkraft hat. Vom Tal aus gesehen, scheint das Erdgeschoß der erste Stock zu sein, aber nach dem Hofe zu liegt es zu ebener Erde, und hier führt eine breite sandbestreute Allee vorbei, die auf einen mit Blumenbeeten geschmückten Rasenplan mündet. Rechts und links senken sich Weinberge, Obstgärten und einige mit Nußbäumen bepflanzte Streifen Ackerlandes steil zum Tal, umrahmen das Haus mit ihrem Grün und erreichen das Ufer der Indre, das an dieser Stelle von Baumgruppen geschmückt ist; ihre grünen Farbtöne sind kunstvoll abgestuft. Auf dem Wege, der an Clochegourde vorbeiführt, bewunderte ich die wohlverteilten Laubmassen, ich atmete eine glückgesättigte Luft.... Hat denn die psychische Natur wie die physische ihre elektrischen Strömungen und ihre raschen Temperaturwechsel? Mein Herz schlug höher beim Nahen der geheimnisvollen Ereignisse, die es auf alle Zeiten hinaus umgestalten sollten, wie Tiere fröhlich werden, wenn sie schönes Wetter ahnen. Dieser für mein Leben so bedeutungsvolle Tag entbehrte keiner der Einzelheiten, die ihn zu einem Festtag machen konnten. Die Natur hatte sich geschmückt wie eine Frau, die ihrem Geliebten entgegengeht; meine Seele hatte zum ersten Mal ihre Stimme gehört; meine Augen hatten sie zum ersten Mal bewundert, so fruchtbar, so wechselreich, wie sie meine Phantasie in meinen Knabenträumen erschaut hatte, Knabenträume, deren Einfluß ich Ihnen mit unbeholfenen Worten zu schildern versucht habe. Denn sie waren wie eine Apokalypse, die mein Leben in Gleichnissen festlegte: jedes glückliche oder unglückliche Ereignis knüpft sich an seltsame Bilder aus meiner Kinderzeit mit unsichtbaren Banden, die nur dem innern Auge erkennbar sind. – Wir durchschritten zunächst einen Hof, der von Wirtschaftsgebäuden, einer Scheune, einer Kelter, von Kuh- und Pferdeställen eingefaßt war. Hundegekläff kündete uns an. Der Diener, der uns entgegenkam, teilte uns, mit, daß der Comte schon am Morgen nach Azay aufgebrochen sei, aber wahrscheinlich bald zurückkehren werde, daß aber die Comtesse zu Hause sei. Mein Begleiter sah mich an. Ich fürchtete daß er Madame de Mortsauf in Abwesenheit ihres Gemahls nicht aufsuchen wolle; aber er bat den Diener, uns anzumelden. Von kindlicher, unbezähmbarer Ungeduld getrieben, stürzte ich in den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher