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Die Lilie im Tal (German Edition)

Die Lilie im Tal (German Edition)

Titel: Die Lilie im Tal (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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meine Auserwählte in der Touraine lebte, atmete ich beglückt die Luft ein; ich entdeckte zum erstenmal, wie strahlend blau und einzig dieser Himmel war. Meine Verzückung glich sehr einer ernsthaften Krankheit und erregte bei meiner Mutter Befürchtungen, die zweifellos mit Gewissensbissen vermischt waren. Gleich den Tieren, die ein Leiden herannahen fühlen, verkroch ich mich in einem Winkel des Gartens, um dort von dem gestohlenen Kuß zu träumen.
    Wenige Tage nach diesem denkwürdigen Ball erklärte sich meine Mutter die Vernachlässigung meiner Arbeit, meine Gleichgültigkeit vor ihren tyrannischen Blicken, meine Teilnahmslosigkeit gegen ihre spöttelnden Ausfälle und mein finsteres Wesen als Äußerungen der Entwicklungskrisen, die ein junger Mann in meinem Alter durchzumachen hat. Ein Aufenthalt auf dem Lande, dies ewige Heilmittel gegen alle Leiden, denen die Medizin nicht beikommt, galt für geeignet, mich aus meiner Gleichgültigkeit zu befreien. Meine Mutter bestimmte, daß ich einige Tage in Frapesle, einem Schloß an der Indre, zwischen Montbazon und Azay-le-Rideau, bei einem ihrer Freunde zubringen sollte: dem hatte sie wahrscheinlich geheime Anweisungen gegeben. Aber als mir endlich die Freiheit geschenkt wurde, hatte ich schon so kräftig im Ozean der Liebe geschwommen, daß ich ans andere Ufer gelangt war. Ich kannte den Namen meiner Freundin nicht. Wie sollte ich sie bezeichnen? Wie sie wiederfinden? Mit wem konnte ich über sie sprechen? Meine Schüchternheit vermehrte noch die unerklärlichen Angstgefühle, die sich junger Herzen beim Nahen der Liebe bemächtigen, und so kostete ich gleich zu Anfang die tiefe Trauer, die sonst den Abschluß unglücklicher Leidenschaften bildet. Nichts war mir lieber, als planlos die Felder zu durchstreifen. Mit dem Mute des Kindes, das vor nichts zurückschreckt und wahrhaft etwas Ritterliches an sich hat, nahm ich mir vor, die Schlösser der Touraine zu durchstöbern; zu Fuß wollte ich reisen und mir vor jedem hübschen Türmchen sagen: ›Hier!...‹
    So schritt ich denn eines Donnerstagmorgens durch das Tor Saint-Eloi, ließ Tours hinter mir, ging über die Saint-Sauveur-Brücken, gelangte nach Poncher, wobei ich an jedem Haus hinaufsah, und schlug die Richtung nach Chinon ein. Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich unter einem Baume stehenbleiben, nach Wunsch langsam oder schnell gehen, ohne jemand Rechenschaft abzulegen. Für ein armes Wesen, das sich unter den vielen Gewalttaten, die mehr oder minder eines jeden Jugend bedrohen, hatte ducken müssen, wirkte der erste Gebrauch des Selbstbestimmungsrechts, und wenn es sich nur um Nichtigkeiten handelte, so befreiend wie ein glücklicher Rausch. Vieles kam zusammen, um aus jenem Tag ein wunderbares Freudenfest zu machen... In meiner Kindheit hatten mich meine Spaziergänge nie mehr als eine Meile weit vor die Stadt geführt. Meine Wanderungen in der Umgebung von Pont-le-Voy oder in Paris hatten mich in meinen Ansprüchen an ländliche Naturschönheiten nicht verwöhnen können. Aber ich hatte aus meinen ersten Jugenderinnerungen das Verständnis für die Schönheit der mir vertrauten Landschaft um Tours herübergerettet. Obwohl mein Empfinden für die Natur völlig ungeschult war, stellte ich doch unbewußt hohe Anforderungen an die Landschaft, wie alle, denen ein Kunstideal vorschwebt, ohne daß sie praktische Erfahrung besäßen. Um zum Schloß Frapesle zu gelangen, kürzen Fußgänger und Reiter den Weg ab und durchqueren die sogenannte Charlemagne-Heide, ein Brachland, das oben auf der Wasserscheide zwischen Indre und Cher liegt und worüber auch ein Pfad nach Champy führt. Diese flachen, sandigen Gelände, die sich eine Meile weit trostlos hindehnen, münden in einem kleinen Gehölz auf die Straße von Saché; so heißt das Dorf, in dessen Bezirk Frapesle liegt. Dieser Weg, der sich jenseits von Ballan mit der Straße von Chinon vereinigt, läuft am Rand einer sanft gewellten Ebene hin bis zu dem kleinen Gebiet von Artanne. Von dort blickt man in ein Tal, das bei Montbazon beginnt und sich bis zur Loire erstreckt. Es sieht aus, als ob es sich unter den Schlössern bäumte, die auf seinem doppelten Hügelsaum lasten: eine wundervolle Smaragdschale, auf deren Grunde sich die Indre mit Schlangenbewegungen hinzieht. Bei diesem Anblick packte mich ein wohliges Staunen, das die Eintönigkeit der Heide und die Wandermüdigkeit vorbereitet hatten.
    ›Wenn jene Frau, die Blüte ihres Geschlechts, irgendwo
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