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Die Liebesbloedigkeit

Die Liebesbloedigkeit

Titel: Die Liebesbloedigkeit
Autoren: Wilhelm Genazino
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und die Rückseiten der Schenkel. Vor meinen Augen verwandelt sich Sandra von einer Geliebten in eine Krankenschwester. Tatsächlich verliert sich langsam das Gefühl der Muskelverzerrung. Du solltest mal zum Arzt gehen, sagt Sandra. Gegen Krämpfe kann man nichts machen, glaube ich. Es geht nicht nur um Krämpfe, sagt Sandra, du solltest auch mal deine Blutwerte untersuchen lassen. Es erstaunt mich, daß Sandra über den mißratenen Beischlaf kein Wort verliert. Sie verhält sich, als hätte sie mit derlei Zwischenfällen schon länger gerechnet. Ich drehe mich auf die Seite, Sandra legt sich hinter mich und streichelt mir den Rücken. Hast du Schmerzen? fragt sie leise. Nein. Ich gestehe mir ein, daß ich diesen Stil des Umgangs zwischen Mann und Frau für unüberbietbar halte. Ich merke nicht, wer von uns beiden zuerst einschläft. Nach drei Stunden wacht Sandra auf, verläßt das Bett, holt sich in der Küche einen Butterkeks und kehrt ins Bett zurück. Im Halbschlaf kriege ich mit, daß sie neben mir liegt und langsam den Keks zerkaut (ihre Angewohnheit). Ich höre dem Kauen eine Weile zu und schlafe wieder ein. Ich verbringe eine Nacht ohne Störungen und Alpträume. Frühmorgens, gegen halb sechs, fast gleichzeitig mit der ersten Dämmerung, öffne ich die Augen. Mein Geschlecht ist vor mir wach, ich dränge mich an Sandra heran, sie versteht sofort. Eine halbe Minute später stecken wir ineinander. Ich weiß momentweise nicht, wofür ich dankbarer sein soll, über den verschwundenen Krampf oder über unsere Heftigkeit am frühen Morgen. Nach dem Vögeln schiebe ich Sandras Nachthemd wieder über ihren Hintern. Dieser Vorgang amüsiert Sandra jedesmal. Es ist, als wolltest du meinen Hintern wieder ordentlich in einer Schublade verstauen, sagt sie. Ein bißchen ist es auch so, sage ich, die guten Dinge muß man ordentlich verwahren. Sandra steigt lachend aus dem Bett und bereitet das Frühstück zu.
    Es gefällt mir, wenn ich nach einer Nacht bei Sandra frühmorgens nach Hause gehe. Jedesmal habe ich das Gefühl, ich sei lange weg gewesen und kehre nach glücklich überstandenen Abenteuern zurück. Ich habe eine starke Empfindung von Freiheit, die wegen ihrer Heftigkeit ein bißchen lächerlich ist. In den Grünanlagen schaue ich nach Wacholderdrosseln. Ich suche nicht wirklich, ich will nur das Wort Wacholderdrossel ein paarmal denken. Statt dessen sehe ich schönen Klatschmohn auf einem Geröllhaufen. Die sanftroten Blüten wehen leicht hin und her. Ich durchstreife den Innenstadtbereich und erschrecke über die heruntergelassenen Stahlrolläden einer Bank. Ich ermahne mich, mich mehr für Wirtschaft und Globalisierung zu interessieren. Viele meiner Bekannten sagen, wir hätten eine Bankenkrise, die viel gefährlicher sei als eine gewöhnliche Wirtschaftskrise. Man hat jetzt Mitleid mit den Banken, das hat es in meiner Jugend nicht gegeben. Ich bin altmodisch, mein Mitleid gehört nach wir vor den Leuten, die von den Banken entlassen werden. Im Eingangsbereich der geschlossenen Bank haben sich einige Obdachlose angesiedelt. Handelt es sich vielleicht um gefeuerte Bankangestellte? Sie suchen sich solche windgeschützten Plätze, wo sie nicht vertrieben werden und wo es in der Nacht nicht völlig dunkel wird. Ich gehe an den schon angerosteten Stahlrolläden vorbei und empfinde wieder nicht das geringste Interesse für die Bankenkrise. Die Obdachlosen liegen herum, als würden sie schon immer hier herumliegen. Es fällt auf, daß jeder frei gewordene Platz sofort von nachrückendem Leben in Beschlag genommen wird. Einer der Obdachlosen spielt mit der Hand im Fell seines Hundes, ein anderer spuckt Tabakkrumen aus. Von den Bildern gehen eigenartige Verstummenseffekte aus, die jetzt sogar in mein Innenleben eindringen. Ich wehre sie ab, indem ich zwei hellen Kinderstimmen folge. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, daß ich jetzt fürchte, ich werde eines Tages meine Uhr verlieren. Ich trage sie nicht mehr am Armgelenk, ich stecke sie in die Anzugtasche, wo sich schon mein Schlüsselbund, ein bißchen Geld, ein Taschentuch und ein kleiner Anstecker befinden, der eigentlich Sandra gehört. Eines Tages, wenn ich vor irgend etwas fliehe, werde ich nach meinem Taschentuch greifen und dabei versehentlich meine Uhr herausschleudern. Ich eile durch vermurkste Seitenstraßen, ich bemühe mich, abstoßenden Möbelgeschäften und ekligen Billigmärkten nicht zu nahe zu kommen. Eine Frau geht an einer Drogerie vorüber und
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