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Die Liebesbloedigkeit

Die Liebesbloedigkeit

Titel: Die Liebesbloedigkeit
Autoren: Wilhelm Genazino
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Apokalypse ist nichts weiter als ein Schreckensszenario für Weltanschauungsneurotiker, von denen es freilich sehr viele gibt. Ich beschäftige mich mehr mit einer absehbar gewordenen Zivilisationsapokalypse, das heißt mit Deformationen, die unscheinbar in unser Leben eindringen und uns allmählich die Luft abdrücken. Es gibt ein gewisses Verlangen in der Gesellschaft nach der neuesten Version ihres möglichen Untergangs. Zur Zeit bereite ich ein zweieinhalbtägiges Apokalypse-Seminar in einem schweizerischen Hotel vor. In drei großen Tageszeitungen werde ich seriöse Anzeigen schalten, ich werde persönliche Einladungen (an Teilnehmer früherer Seminare) verschicken und in Volkshochschulen und Seniorenzirkeln für meine Veranstaltung werben. Das Schwerste freilich ist die Ausarbeitung von mindestens zwei neuen apokalyptischen Vorträgen (einer am Freitag-, der zweite am Samstagabend), für deren Niederschrift ich auf die richtige dramatische Stimmung warte. Reich geworden bin ich mit meinen Vorträgen bis jetzt nicht. Die Apokalypse ernährt ihren Mann, obgleich ich mir große Ansprüche an den Lebensstandard oder teure Hobbys nicht leisten kann. Ich will mich an den Schreibtisch setzen, aber dann gehe ich in das Schlafzimmer hinüber und schaue durch die Mittelritze der Nesselgardinen auf den Balkon hinaus. Ich halte mich kaum noch auf dem Balkon auf, er ist inzwischen fast vollständig von Vögeln als Tummelplatz erobert worden. In der Regenrinne, die am Rand des Balkons um diesen herumführt, hat sich ein Taubenpärchen angesiedelt. Ich habe die Tiere dabei beobachtet, wie sie über Tage hin kleine Ästchen und welke Blätter herbeigeflogen und ein Nest gebaut haben. Es stört die Tauben nicht, daß ihr Nest bei Regen unterspült wird und ihr Unterleib über Stunden hin kalt eingefeuchtet ist. Ich interessiere mich für die Tauben, weil sie Ähnlichkeit mit Menschen haben. Sie sind katastrophenresistent, das heißt, sie bilden (genau wie Menschen) Verhaltensweisen aus, die immer noch eine Spur härter und widerstandsfähiger sind als das, was ihnen von Natur oder Zivilisation zugefügt wird. Frau Schlesinger, meine Nachbarin, kämpft gegen die Tauben auf ihrem Balkon. Früher hat sie sich damit begnügt, von Zeit zu Zeit hinauszutreten und in die Hände zu klatschen. Dann erschreckte sie die Tiere durch Zischen und ein klägliches Sch-sch-sch-Geräusch. Neuerdings öffnet sie die Balkontür und wirft nasse Tücher nach den Vögeln. Sie beargwöhnt mich, weil ich das Pärchen in meiner Regenrinne nicht vertreibe. Sie bemerkt nicht, wie sehr es mich beeindruckt, daß Frau Schlesinger, indem sie die Tauben bekämpft, deren Hoffnungslosigkeit mehr und mehr in ihr eigenes Leben aufnimmt. Die vielen anderen Vögel setzen sich (auch jetzt wieder) auf die oberste Querstange des Geländers, mit dem Hinterteil in Richtung Balkontür. Sie tschilpen und zetern eine Weile, dann drücken sie ihre hübschen weißen Scheißespritzer auf den Boden des Balkons und schwirren ab. Ich sehne mich kurz danach, selbst ein Vogel zu sein und Scheißen und Verschwinden genauso elegant miteinander verbinden zu können wie sie. Vermutlich ist diese Phantasie der Grund, warum ich kurz danach auf die Toilette muß. Kaum sitze ich auf der Schüssel, höre ich durch das angelehnte Fenster das Geräusch eines nahen Autounfalls. Es kracht, Blech wird eingedrückt, Glas splittert, danach die übertriebene Stille, die jedem Unfall folgt. Ich stelle mir vor, wie ein Teil der Passanten flieht und ein anderer Teil in die Nähe des Unfalls eilt. Ich allein gedenke in der Toilette der Sinnlosigkeit aller Opfer. In Wahrheit gedenke ich nur meiner eigenen Katastrophe. Wie konnte es nur dazu kommen, daß es mir so gleichgültig geworden ist, ob ich einen Abend mit Sandra oder Judith verbringe. Wenn ich unterwegs bin, verwechsle ich die beiden in der Erinnerung oder setze sie einander gleich. War ich mit Sandra in München oder mit Judith in Hamburg, oder war ich mit Sandra in Hamburg und mit Judith in München? Inmitten des Katastrophengefühls empfinde ich über die Verschmelzung der beiden Frauen in meinem Gedächtnis gleichzeitig Glück. Wenn ich glücklich bin, kann ich nicht arbeiten. Ich war immer der Meinung, daß nur eine unglückliche Menschheit unentwegt arbeiten kann. Ich überlege kurz, ob ich diesen Aspekt (Niedergang der Kultur durch zuviel Arbeitsglück) in einem Apokalypse-Vortrag einbauen soll. Da klingelt das Telefon. Ich stürze aus
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