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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera
Autoren: Gabriel García Márquez
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ob der Barbarei des Krieges: Im Westen nichts Neues. Später hatten sie sich im Atelier getroffen. Er wirkte abwesend und elegisch auf sie, und sie dachte, es sei wegen der brutalen Szenen mit den Verwundeten im Morast. Um ihn abzulenken, forderte sie ihn zu einer Partie Schach auf, und er tat ihr den Gefallen, spielte aber unkonzentriert, mit Weiß, natürlich, bis er noch vor ihr bemerkte, daß er in vier weiteren Zügen Schachmatt sein würde, und sich ehrlos ergab. Da begriff der Arzt, daß sie und nicht, wie er angenommen hatte, General Jeronimo Argote der Gegner der letzten Partie gewesen war. Erstaunt murmelte er:
    »Es war eine meisterhafte Partie!«
    Sie bestand darauf, daß das nicht ihr Verdienst gewesen sei, vielmehr habe Jeremiah de Saint-Amour, der sich schon in den Nebeln des Todes verloren hatte, die Figuren lieblos gezogen. Als er die Partie unterbrach, etwa um Viertel nach elf, die Musik der öffentlichen Tanzfeste war schon verklungen, bat er sie, ihn alleinzulassen. Er wollte einen Brief an Doktor Juvenal Urbino schreiben, den er für den achtbarsten Mann hielt, dem er je begegnet war, und zudem für einen Seelenfreund, wie er gern sagte, obwohl ihre einzige Gemeinsamkeit das Laster des Schachspiels war, das sie als Dialog der Vernunft und nicht als Wissenschaft betrachteten. Da hatte sie gewußt, daß Jeremiah de Saint-Amour am Ende seiner Agonie angelangt war und ihm gerade noch so viel Zeit zum Leben blieb, um diesen Brief zu schreiben. Der Arzt wollte es nicht glauben. »Sie wußten es also!« rief er aus.
    Sie hatte es nicht nur gewußt, sondern ihm auch mit der gleichen Liebe geholfen, die Agonie zu ertragen, mit der sie ihm geholfen hatte, das Glück zu entdecken. Denn das waren seine letzten elf Monate gewesen: eine grausame Agonie. »Es wäre Ihre Pflicht gewesen, das anzuzeigen«, sagte der Arzt.
    »Das hätte ich ihm nicht antun können«, sagte sie empört. »Ich liebte ihn zu sehr.«
    Doktor Urbino, der glaubte, bereits alles gehört zu haben, hatte dergleichen noch nie gehört, und schon gar nicht auf so einfache Weise gesagt. Er schaute sie geradeheraus an, mit all seinen fünf Sinnen, um sie sich so einzuprägen, wie sie in jenem Augenblick war: Sie glich einer Flußgottheit, unerschrocken in ihrem schwarzen Kleid, mit den Augen einer Schlange und der Rose hinter dem Ohr. Vor sehr langer Zeit, an einem einsamen Strand von Haiti, wo beide nach der Liebe nackt ruhten, hatte Jeremiah de Saint-Amour auf einmal geseufzt: »Ich werde nie alt.« Sie deutete das als heroischen Vorsatz, einen unerbittlichen Kampf gegen die zerstörerische Vergänglichkeit zu führen, doch er wurde noch deutlicher: Er habe die unumstößliche Absicht, sich mit sechzig das Leben zu nehmen.
    Tatsächlich war er am dreiundzwanzigsten Januar dieses Jahres sechzig geworden, und damals hatte er sich als letzten Termin den Tag vor Pfingsten gesetzt, dem höchsten Fest in dieser der Anbetung des Heiligen Geistes geweihten Stadt. Es gab nicht die geringste Kleinigkeit in der vergangenen Nacht, die sie nicht schon im vorhinein gekannt hätte, oft hatten sie darüber gesprochen und gemeinsam die unwiederholbare Sturzflut der Tage, die weder er noch sie aufhalten konnten, über sich ergehen lassen. Jeremiah de Saint-Amour liebte das Leben mit einer ziellosen Leidenschaft, er liebte das Meer und die Liebe, liebte seinen Hund und liebte sie, und je näher das Datum rückte, holte ihn die Verzweiflung ein, als sei sein Tod nicht der eigene Entschluß, sondern ein unentrinnbares Schicksal.
    »Als ich ihn gestern nacht allein ließ, war er schon nicht mehr von dieser Welt«, sagte sie.
    Sie hatte den Hund mitnehmen wollen, doch er hatte ihn angeschaut, wie er dösend neben den Krücken lag, und ihn mit den Fingerspitzen gestreichelt. Er sagte: »Tut mir leid, aber Mister Woodrow Wilson geht mit mir.« Er bat sie, das Tier, während er schrieb, an ein Bein des Feldbetts zu binden. Sie tat es, knüpfte aber einen falschen Knoten, damit es sich befreien könne. Das war der einzige Akt der Untreue, den sie begangen hatte, und er war gerechtfertigt durch den Wunsch, in den Winteraugen des Hundes die Erinnerung an seinen Herrn zu bewahren. Aber Doktor Urbino unterbrach sie und erzählte, daß der Hund sich nicht befreit habe. Sie sagte: »Dann hat er es nicht anders gewollt.« Und sie freute sich, weil sie doch lieber des Geliebten so gedenken wollte, wie er es in der vergangenen Nacht von ihr erbeten hatte, als er den schon
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