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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera
Autoren: Gabriel García Márquez
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ohne Gott und Gesetz ihr Pfingstfest. Als sie endlich die Adresse gefunden hatten, wurde die Kutsche schon von Banden nackter Kinder verfolgt, die sich über die theatralische Aufmachung des Kutschers lustig machten, weshalb dieser sie mit der Peitsche zu vertreiben suchte. Doktor Urbino, der sich auf einen vertraulichen Besuch eingestellt hatte, begriff, daß es keine gefährlichere Naivität als die seines Alters gab.
    Das Äußere des Hauses ohne Nummernschild unterschied sich in nichts von den weniger glücklichen, einmal abgesehen von einem Fenster mit Spitzengardinen und dem Portal, das aus irgendeiner alten Kirche herangeschafft worden war. Der Kutscher betätigte den Türklopfer, und erst als er sich davon überzeugt hatte, daß es sich um die richtige Adresse handelte, half er dem Arzt aus der Kutsche. Die Tür hatte sich geräuschlos geöffnet, und in der Dämmerung des Innenraums stand eine Frau mittleren Alters, ganz in Schwarz und mit einer roten Rose hinter dem Ohr. Trotz ihrer Jahre, wohl mindestens vierzig, war sie immer noch eine stolze Mulattin, die Augen golden und grausam und das Haar wie ein Helm aus Stahlwolle fest um den Schädel gelegt. Doktor Urbino erkannte sie nicht, obwohl er sie mehrmals im Nebel der Schachpartien bei dem Fotografen gesehen hatte und ihr gelegentlich ein Rezept für Chinin gegen Wechselfieber ausgeschrieben hatte. Er streckte ihr die Hand entgegen, und sie nahm sie zwischen ihre beiden, weniger um ihn zu begrüßen, als um ihm beim Hereinkommen zu helfen. Im Raum war die Luft und das unsichtbare Raunen eines Waldes, er war vollgestellt mit Möbeln und Nippes, alles stimmig angeordnet. Doktor Urbino erinnerte sich ohne Bitterkeit an das Lädchen eines Antiquars in Paris, an einen Herbstmontag des vergangenen Jahrhunderts in der Rue Montmartre 26. Die Frau setzte sich ihm gegenüber und sprach ihn in einem ungelenken Spanisch an. »Fühlen Sie sich wie zu Hause, Doktor«, sagte sie. »Ich hatte Sie nicht so schnell erwartet.« Doktor Urbino fühlte sich verraten. Er sah sie mit den Augen seines Herzens, bemerkte ihre strenge Trauer, die Würde ihres Leids und erkannte, daß dies ein überflüssiger Besuch war, weil sie über all das, was in Jeremiah de Saint-Amours Abschiedsbrief ausgesprochen und gerechtfertigt worden war, mehr wußte als er. So war es: Bis wenige Stunden vor seinem Tod hatte sie ihn begleitet, wie sie ihn ein halbes Leben lang begleitet hatte, mit einer Hingabe und einer unterwürfigen Zärtlichkeit, die allzusehr der Liebe ähnelten, ohne daß es jemand in dieser schläfrigen Provinzhauptstadt, wo doch selbst Staatsgeheimnisse bekannt waren, gewußt hätte. Sie hatten sich in einer Wandererherberge in Port-au-Prince kennengelernt, wo sie geboren war und er seine erste Flüchtlingszeit verbracht hatte, und sie war ihm ein Jahr später für einen kurzen Besuch hierher gefolgt, obwohl beide, ohne es abgesprochen zu haben, wußten, daß sie gekommen war, um für immer zu bleiben. Sie übernahm es, einmal die Woche das Atelier zu putzen und aufzuräumen, doch sogar die Nachbarn mit den üppigsten Hintergedanken hielten den Anschein nicht für die Wahrheit, weil sie wie jedermann davon ausgingen, daß Jeremiah de Saint-Amours Invalidität nicht nur aufs Gehen beschränkt war. Selbst Doktor Urbino nahm das aus fundierten medizinischen Gründen an und wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß der Fotograf eine Frau gehabt haben könnte, hätte jener es nicht selbst im Brief enthüllt. Auf jeden Fall fiel es ihm schwer zu begreifen, daß zwei ungebundene Erwachsene ohne Vergangenheit und abseits der Vorurteile einer selbstgerechten Gesellschaft das Wagnis der verbotenen Liebe gewählt hatten. Sie erklärte es ihm: »Es war sein Wunsch.« Außerdem hielt sie selbst die mit diesem Mann, der nie ganz der ihre gewesen war, geteilte Heimlichkeit, in der sie mehr als einmal die jähe Explosion des Glücks erfahren hatten, beileibe nicht für einen reizlosen Zustand. Im Gegenteil: Das Leben hatte ihr bewiesen, daß er vielleicht vorbildlich war.
    In der vergangenen Nacht waren sie ins Kino gegangen, jeder für sich und auf getrennten Sitzen, wie sie das mindestens zweimal im Monat taten, seitdem der italienische Einwanderer Don Galileo Daconte ein Kino in den Ruinen eines Klosters aus dem siebzehnten Jahrhundert eingerichtet hatte. Der Film war nach einem Buch gedreht worden, das im Jahr zuvor Mode gewesen war und das auch Doktor Urbino gelesen hatte, das Herz voll Gram
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