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Die Liebe einer Frau

Die Liebe einer Frau

Titel: Die Liebe einer Frau
Autoren: Alice Munro
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graubärtige Mann trug Jeans und ein kariertes, bis zum Hals zugeknöpftes Hemd und eine schmale Krawatte. Auf dem Tisch standen Flaschen und Gläser. Der Mann auf dem Gastgeberstuhl – vermutlich Harold – und der graubärtige Mann tranken Whisky. Die anderen beiden tranken Bier.
    »Ich hab ihr gesagt, vielleicht sind Bilder im Vorderhaus, aber da kann sie nicht rein, das hast du zugemacht«, sagte der kleine Mann.
    Harold sagte: »Klappe.«
    Eve sagte: »Es tut mir wirklich leid.« Ihr schien nichts übrigzubleiben als ihre Geschichte herunterzuspulen und sie noch zu erweitern, um ihre Aufenthalte in dem Ferienhotel als kleines Mädchen, die Fahrten mit ihrer Mutter, die Bilder in der Mauer, ihre Erinnerung daran heute, die Torpfosten, ihren offensichtlichen Irrtum, ihre Entschuldigung. Sie sprach direkt zu dem Graubart, da er der Einzige zu sein schien, der bereit war, ihr zuzuhören, oder fähig war, sie zu verstehen. Ihr Arm und ihre Schultern schmerzten von Daisys Gewicht und von der Spannung, die ihren ganzen Körper ergriffen hatte. Trotzdem dachte sie darüber nach, wie sie das alles beschreiben würde – sie würde sagen, es war, als sei sie unversehens mitten in ein Stück von Pinter geraten. Oder wie ihre schlimmsten Albträume von einem sturen, stummen, feindseligen Publikum.
    Der Graubart sprach, als ihr nichts Liebenswürdiges oder Entschuldigendes mehr einfiel. Er sagte: »Ich weiß nicht. Sie müssen Harold fragen. He.He.Harold. Weißt du was von Bildern aus Glasscherben?«
    »Sag ihr, als sie rumfuhr und sich Bilder ansah, war ich noch nicht mal geboren«, sagte Harold, ohne aufzuschauen.
    »Sie haben kein Glück«, sagte der Graubart zu Eve.
    Der tätowierte Mann pfiff. »He, du«, sagte er zu Philip. »He, Kleiner. Kannst du Klavier spielen?«
    Hinter Harolds Stuhl stand ein Klavier. Es war kein Klavierhocker da – Harold selbst nahm fast den ganzen Platz zwischen dem Tisch und dem Klavier ein –, und unpassende Dinge wie Teller und Mäntel häuften sich auf dem Instrument wie auf jeder anderen Fläche im Haus.
    »Nein«, sagte Eve rasch. »Nein, das kann er nicht.«
    »Ich frage ihn«, sagte der tätowierte Mann. »Kannst du ein Lied spielen?«
    Der Graubart sagte: »Lass ihn in Ruhe.«
    »Ich frag ihn doch bloß, ob er ein Lied spielen kann, was soll damit sein?«
    »Lass ihn in Ruhe.«
    »Sehen Sie, ich kann nicht raus, bis jemand den Pick-up wegfährt«, sagte Eve.
    Sie dachte: In diesem Zimmer riecht es nach Sperma.
    Philip drückte sich stumm an sie.
    »Wenn Sie nur ein Stück vor fahren könnten –«, sagte sie, drehte sich um und erwartete, den kleinen Mann hinter sich zu finden. Sie hielt inne, als sie sah, dass er nicht da war, er war gar nicht mehr im Zimmer, er hatte sich hinausgeschlichen, ohne dass sie es gemerkt hatte. Was, wenn er die Tür abgeschlossen hatte?
    Sie packte den Türknopf, und er drehte sich, die Tür ging auf, ein bisschen schwer, und auf der anderen Seite krabbelte etwas. Der kleine Mann hatte hinter der Tür gehockt und gelauscht.
    Eve ging hinaus, ohne ihn anzusprechen, durch die Küche, Philip trottete neben ihr her wie der folgsamste kleine Junge der Welt, auf dem schmalen Pfad durch die Diele, durch den Müll, und als sie an die frische Luft kamen, sog Eve sie gierig ein, denn sie hatte lange nicht mehr durchgeatmet.
    »Sie müssen die Straße runterfahren und unten bei der Farm von Harolds Vetter fragen«, kam ihr die Stimme des kleinen Mannes hinterher. »Die haben es schön da. Die haben ein neues Haus, und die Frau sorgt für Ordnung. Die zeigen Ihnen Bilder und alles, was Sie wollen, die nehmen Sie gut auf. Die bieten Ihnen einen Stuhl an und setzen Ihnen was zu essen vor, die lassen keinen hungrig weggehen.«
    Er konnte nicht die ganze Zeit hinter der Tür gehockt haben, denn er hatte den Wagen weggefahren. Oder jemand anders hatte es getan. Der Pick-up war verschwunden, vielleicht in einem Schuppen, jedenfalls war er nicht mehr zu sehen.
    Eve kümmerte sich nicht um den kleinen Mann. Sie setzte Daisy ins Auto und schnallte sie an. Philip schnallte sich von allein an, ohne dazu ermahnt werden zu müssen. Trixie tauchte irgendwoher auf, lief traurig um das Auto und schnupperte an den Reifen.
    Eve stieg ein und schlug die Tür zu, mit schweißnasser Hand griff sie nach dem Zündschlüssel. Das Auto sprang an, sie fuhr vor auf den Kies – den Platz, der von dichten Büschen umgeben war, Beerensträuchern, nahm sie an, und alten Fliedersträuchern
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