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Die Liebe der anderen

Die Liebe der anderen

Titel: Die Liebe der anderen
Autoren: Frederique Deghelt
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lebt, und dass ich alles vergessen habe, was in den letzten zwölf Jahren passiert ist. Sie hat mich auf die Welt gebracht. Sie müsste doch wissen, was hier nicht in Ordnung ist. Wo sitzt der Defekt inmeinem Gehirn? Ich möchte, dass sie mich in den Armen wiegt, dass sie mir sagt: »Alles wird gut, mein Baby, ich singe dir etwas vor, wie damals, als du zwei oder drei warst.« Ich hatte noch nicht aufgehört, Tochter zu sein, und nun bin ich selbst Mutter von zwei Kindern. Meine Nerven machen das nicht mit. Als ich ihre Stimme höre, möchte ich am liebsten losheulen, ihr von diesem Alptraum erzählen, den ich gerade durchlebe. Etwas hält mich davon ab, eine starke innere Stimme, der es nicht an Argumenten fehlt. Was? Welcher Alptraum? Du scheinst es doch gut getroffen zu haben: Du hast einen außergewöhnlichen Ehemann, wunderbare Kinder, du bist arbeitslos, aber nicht bedürftig, und du kannst dir in Ruhe eine neue Stelle suchen. Du wirst dich doch wohl nicht an der Schulter deiner Mutter ausheulen! Du bist nicht mehr fünfundzwanzig, sondern siebenunddreißig! Mein Gott, siebenunddreißig! Ich lasse mich auf den Parkettboden gleiten …
    »Schätzchen, alles in Ordnung? Du bist doch nicht krank? Ich wollte nur mal hören, ob es bei unserem Mittagessen bleibt? Du erinnerst dich doch, dass wir zusammen essen wollten, wenn ich wieder da bin?«
    »Keine Angst, alles in Ordnung. Natürlich erinnere ich mich,« sagt der Automat.
    »Wollen wir uns hier bei mir um die Ecke treffen? Komm mich doch um eins abholen.«
    »Lass uns lieber gleich im Restaurant treffen, wenn es geht.«
    »Na schön. Dann sagen wir um Viertel nach eins im
Lipp
… Bis später.«
    Ich segne meine Mutter und ihre festen Gewohnheiten. Das
Lipp
kenne ich von früher. Dann wohnt sie also, wie gehabt, im sechsten Arrondissement. Vielleicht noch in der alten Wohnung. Ich darf nicht vergessen, sie danach zu fragen, das notiere ich mir am besten sofort. Nicht, dass ich in einer Stunde schon wieder vergessen habe, dass wir unszum Essen treffen wollten. Wie funktioniert ein Gedächtnis, das in der Lage ist, zwölf Jahre zu überspringen? Ich lache nervös, vor allem darf ich nicht den Humor verlieren. Mir graust vor dem Gedanken, in irgendein Fettnäpfchen zu treten.
    Ich inspiziere meine Handtasche und stelle fest, dass ich bis zu meiner Kündigung einen vollen Terminkalender hatte, einen sehr vollen sogar. Einige Freunde von ganz früher sind mir geblieben, jedenfalls stehen sie nach wie vor in meinem Adressbuch … Was den Lippenstift angeht, habe ich meinen Geschmack allerdings geändert. Er ist viel dunkler als sonst, schreckliche Farbe. Des Weiteren stoße ich auf den Schlüsselbund, aha, ein Autoschlüssel. Was für ein Auto ist das wohl? Keine Ahnung. Ich besitze auch Metro-Tickets, aber die sind nicht mehr gelb, sondern grün. Im Portemonnaie entdecke ich einen Fünfhundert-Francs-Schein. Auch das ist bei mir nicht die Regel. Ich gehöre zur Scheckkarten-Generation, über die sich manch älterer Ladenbesitzer aufregt. Kleingeld für einen Kaffee oder zwei, und der Rest mit Karte. Wie auch immer, es ist ein beruhigendes Gefühl, Geld zu besitzen, ohne jemanden darum bitten zu müssen. Außerdem, wer weiß, vielleicht ist ja der Kaffeepreis in den letzten zwölf Jahren explodiert! In den Fächern des abgewetzten Portemonnaies stoße ich auf ein paar Fotos: ein Säugling, wahrscheinlich mein Sohn oder meine Tochter, und ein Bild von Pablo und mir in Kostümen aus dem 18. Jahrhundert, in einer Stadt, vermutlich Venedig, keine Ahnung, ich habe noch nie einen Fuß in diese Stadt gesetzt. Wir sehen glücklich aus in unserer Gondel, sehr glücklich. Ich finde mich gar nicht so übel als Prinzessin im Stil der Zeit, und er trägt sein unwiderstehliches Lächeln auf den Lippen, das mich gestern Abend so prompt seine Hand ergreifen ließ. Das heißt … an jenem Tag, als wir uns kennenlernten. Vielleicht sollte ich langsam anfangen, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Es ist nun elf Uhr vormittags, und die Wahrscheinlichkeit, dass ichwieder aufwache, und es ist zwölf Jahre früher, ist äußerst gering.
    Ich stöbere in den Schubladen des Sekretärs, der im Eingangsbereich der Wohnung steht, und stoße auf einen schmalen Aktenordner mit Gehaltsabrechnungen und Kontoauszügen. Alles auf meinen Namen. Die Lohnabrechnungen gehen ein Jahr zurück, die Bankunterlagen sechs Monate, das ist immerhin ein Anfang. Ich sehe mir den Namen meines Arbeitgebers an und stelle
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