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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle
Autoren: John le Carré
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knisterndes Papier, eine Abfolge von Geräuschen, dann nichts. Sie dachte an ein Auto, das mit abgestelltem Motor leise über Kies rollt. »Jemand fischt auf dem See«, sagte Khalil. »Mitten in der Nacht?«
    »Hast du noch nie nachts geangelt?« Er lachte verschlafen. »Bist du noch nie mit einem kleinen Boot und einer Lampe auf einen See hinausgefahren und hast Fische mit der Hand gefangen?«
    »Wach auf! Rede mit mir!«
    »Lieber schlafen.«
    »Ich kann nicht. Ich habe Angst.«
    Er fing an, ihr von einer nächtlichen Mission zu erzählen, die er vor langer Zeit nach Galiläa hinein unternommen hatte, er und noch zwei andere. Wie sie mit einem Ruderboot über den See gefahren waren und es so schön war, dass sie überhaupt nicht mehr daran dachten, was sie eigentlich vorgehabt und statt dessen gefischt hatten. Sie unterbrach ihn.
    »Das war kein Boot.« Sie ließ sich nicht davon abbringen. »Das war ein Auto. Ich hab’s eben wieder gehört. Horch!«
    »Ein Boot«, sagte er schläfrig.
    Der Mond hatte eine Lücke zwischen den Vorhängen gefunden und schickte seine Strahlen hindurch. Sie stand auf, trat ans Fenster, und ohne die Vorhänge zu berühren, starrte sie hinaus. Ringsum Fichtenwälder, der Mondstrahl auf dem See war wie eine weiße Treppe, die in die Mitte der Welt hinunterreichte. Von einem Boot war nichts zu sehen, nirgends ein Licht, um Fische anzulocken. Sie kehrte zurück ins Bett, und sein rechter Arm umfasste sie und zog sie an sich, doch als er ihr Widerstreben spürte, zog er sich sanft von ihr zurück und drehte sich träge auf den Rücken.
    »Erzähl mir was«, sagte sie noch einmal. »Khalil. Wach auf!« Sie schüttelte ihn heftig, küsste ihn dann auf die Lippen. »Wach auf«, wiederholte sie.
    Folglich raffte er sich für sie auf, denn er war ein gütiger Mann und hatte sie zu seiner Schwester gemacht.
    »Weißt du, was so merkwürdig an deinen Briefen an Michel war?« fragte er. »Das mit der Pistole. ›Von jetzt an werde ich träumen, wie dein Kopf auf meinem Kissen liegt und die Pistole darunter‹ - Liebesgeflüster. Wunderschönes Liebesgeflüster.«
    »Und was ist merkwürdig daran? Sag’s mir!«
    »Genau darüber habe ich auch einmal mit ihm gesprochen. Genau darüber. ›Hör zu, Salim‹ , hab’ ich zu ihm gesagt. ›Nur Cowboys schlafen mit der Pistole unter dem Kopfkissen. Wenn du vielleicht auch alles andere vergisst, was ich dir beibringe -dies solltest du dir merken. Wenn du im Bett bist, behalte die Pistole immer an der Seite neben dir, wo du sie besser verbergen kannst und wo deine Hand ist. Lerne, so zu schlafen. Selbst wenn du mit einer Frau zusammen bist.‹ Er sagte, er werde sich das merken. Immer hat er mir etwas versprochen. Und dann vergessen. Oder eine neue Frau gefunden. Oder ein neues Auto.«
    »Also gegen die Regeln verstoßen, oder?« sagte sie, ergriff seine behandschuhte Hand und betrachtete sie im Halbdunkel, zwickte einen leblosen Finger nach dem anderen. Sie waren alle ausgestopft, bis auf den kleinen Finger und den Daumen.
    »Wie kam es dazu?« wollte sie wissen. »Waren es Mäuse? Wie kam es dazu, Khalil? Wach auf!« Es dauerte lange, ehe er antwortete. »Eines Tage, in Beirut, war ich wie Salim ein bisschen dumm. Ich sitze im Büro, die Post kommt, ich hab’s eilig, ich erwarte ein bestimmtes Paket, ich mach’s auf. Das war ein Fehler.«
    »Ja, und? Was ist passiert? Du hast es aufgemacht, und das Ding explodierte. War es so? Explodierte, und die Finger waren futsch. Ist das bei deinem Gesicht auch so gewesen?«
    »Als ich im Krankenhaus wieder zu mir kam, war Salim da. Weißt du was? Er hat sich darüber gefreut, dass ich so dumm gewesen war. ›Ehe du das nächste Mal ein Paket aufmachst, zeig es mir, oder guck dir erst den Poststempel an‹ , sagte er. ›Wenn es aus Tel Aviv kommt, schick’s besser zurück an den Absender‹.«
    »Warum bastelst du denn deine Bomben selbst? Wo du doch nur eine Hand hast?«
    Die Antwort lag in seinem Schweigen. In der dämmerigen Stille seines Gesichts, wie er es ihr mit offenem, alles andere als lächelndem Kämpferblick zugewandt hatte. Die Antwort lag in allem, was sie seit jener Nacht gesehen, da sie sich dem Theater der Wirklichkeit verschrieben hatte. Für Palästina, lautete sie. Für Israel, für Gott. Für mein heiliges Schicksal. Um den Hunden anzutun, was sie mir zuvor angetan haben. Um das Unrecht wiedergutzumachen. Mit Unrecht. Bis alle Gerechten in tausend Stücke zerrissen sind und es der
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