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Die letzten Tage von Hongkong

Die letzten Tage von Hongkong

Titel: Die letzten Tage von Hongkong
Autoren: John Burdett
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Viertel hatte seine eigenen Düfte: In Mongkok, wo er wohnte und arbeitete, roch es nach schwerem Diesel mit einem Hauch von Glutamat, in Wanchai nach gebratenem Kohl, abgestandenem Bier und jahrhundertealtem Sex.
    Trotz seiner westlichen Gesichtszüge fiel er zwischen den Bettlern und Pennern, den Straßenverkäufern und den Inhabern der kleinen Läden, die ihre Rollgitter kaum jemals vor zehn Uhr nachts herunterließen, nicht auf. Kultur hatte etwas mit der persönlichen Lebensgeschichte zu tun, die sich durch unbewußte Gesten ausdrückt; Menschen, die ihn noch nie zuvor gesehen hatten, akzeptierten ihn schon nach wenigen Sekunden als Chinesen. Dabei half ihm auch seine Kenntnis des Straßenslang. Wenn er die Sprache verwendete, in der seine Mutter sich mit den Leuten unterhalten hatte, wurde er fast redselig. Auf dem Gemüsemarkt, der sich einen knappen halben Kilometer die Wanchai Road entlangschlängelte, handelte er zum Spaß an den Ständen um halbschwarze Eier, die im Boden vergraben gewesen waren, um Knoblauch, Ginseng, lebendige Frösche und Küken. Er sah drei Frauen dabei zu, wie sie an Sojabohnenkeimen herumzupften; er unterhielt sich mit Männern, von denen er wußte, daß sie den Triaden angehörten, über das Happy-Valley-Rennen am nächsten Mittwoch und stand ihnen in nichts nach, wenn sie fluchten. Chan hätte das Privileg, auf diesem Straßenmarkt ein Chinese zu sein, nicht einmal für den Gouverneursposten von Hongkong aufgegeben.
    Er genoß die Anonymität vierzig Minuten lang, bevor er sich selbst eingestand, daß er eigentlich gekommen war, um den alten Mann zu besuchen. Er bog in eine Seitenstraße ein, in der fünf Männer, einer nach dem anderen, auf ihn zukamen, jeder von ihnen mit einem Vogelkäfig aus Bambus und einem winzigen gelben Vogel darin. Ein paar Meter weiter blieb er vor dem Kwong Hing Book Store Ltd. stehen. Der Name dieses Büchergeschäfts war das einzige Westliche an dem ganzen Laden. Alle Bücher waren mit einer chinesischen Druckerpresse und in chinesischen Zeichen gedruckt. Chan liebte den Geruch chinesischer Bücher, der sich kaum wahrnehmbar von dem der westlichen unterschied. Auf den schweren Umschlägen aus Papier befanden sich keine Bilder und keinerlei Werbung: Hier ging es nur um das gedruckte Wort. So sollten Bücher immer sein – Papier, Einband und Worte, kein Schnickschnack.
    In dem Laden gab es keine Kasse, nur einen billigen Holztisch in einer Ecke, hinter dem ein alter Chinese mit dünnem, grauem Bart saß, der bis auf sein John-Lennon-T-Shirt reichte. Er hob den Blick.
    Die Haut unter dem Bart spannte sich straff über die Backenknochen; die Augen funkelten wie Wasser am Grund eines Brunnens. Dieses Gesicht versetzte jedem, der es ansah, einen Schock. Es trug keine Zeichen körperlicher Mißhandlung, aber dennoch konnte Chan es nicht betrachten, ohne darin unmenschliche Leiden zu entdecken. Der alte Mann nickte.
    »So, so.« Er sprach Englisch mit amerikanischem Akzent.
    »Ich bin grade vorbeigekommen.«
    »Blödsinn.«
    »Freut’s dich denn nicht, mich zu sehen?«
    »Den Mann, der mich vor dem Exil bewahrt hat? Aber sicher. Ich hatte schon gedacht, du hättest mich vergessen. Ist ganz schön lange her.«
    »Nur sechs Monate.«
    »Zu lang.« Er sah Chan mit seinen tiefliegenden, funkelnden Augen an. »Letztes Mal habe ich dir einen ganz schönen Schreck eingejagt, was?«
    »Du erschreckst alle.«
    Der alte Mann seufzte. »Ich doch nicht. Die Wahrheit. Die erschreckt alle Menschen.« Chan nickte. »Aber du bist wiedergekommen. Ich hab’ damit gerechnet.«
    »Ja?«
    Der alte Mann kicherte. »Nein, um die Wahrheit zu sagen, nicht. Aber ich hab’s gehofft. Du bist kein normaler Chinese. Du bist ein halber Ire, und manchmal fühlen sich die Iren von der Wahrheit angezogen. Das ist so was wie eine Minoritätenreaktion gegen das Hauptvorurteil, das die meisten Menschen gegen ihre Kultur haben.«
    Sein amerikanisches Englisch war fehlerfrei, wenn auch ein wenig altmodisch. Chan mußte an amerikanische Filme aus den fünfziger Jahren denken, die in Provinznestern spielten. »Und außerdem wäre da noch das kleine Problem, das ich letztes Jahr hatte. Du hast Charakter bewiesen, du bist anders, soviel steht fest.«
    »Die haben das Gesetz mißbraucht. Du hast recht gehabt.«
    »›Die‹ – das ist wohl die Regierung von Hongkong, also deine Brötchengeber. Sie haben nach einem Vorwand gesucht, mich abzuschieben, und du hast dich für mich eingesetzt. Das hätte
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