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Die letzten schönen Tage

Die letzten schönen Tage

Titel: Die letzten schönen Tage
Autoren: Helmut Krausser
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nicht angekommen – und siehe da: David schickte das Foto binnen zwanzig Minuten. Es zeigte ihn und Johnson Wange
an Wange – und beide waren sichtlich wohlauf, schmunzelten leicht dämlich in
die Kamera. In Berlin mußte es fast Mittag sein. Kurz dachte Jule daran, David
anzurufen. Todmüde legte sie sich ins Bett. Die Absteige war zugig und laut,
ein paar Zimmer weiter feierten betrunkene Jugendliche und kreischten, wenn jemand
einen obszönen Witz erzählte. Es gab einen winzigen Fernseher, aber keine
Minibar. Jule hätte gerne noch etwas getrunken, gegen den Schmerz, aber es ging
dann auch so, und sie schlief schnell ein.
    Und schlief beinah zehn
Stunden. Es war Nachmittag, als Jule zaghaft aufbrach, die neue Örtlichkeit zu
erkunden. Tampa bot Touristen einiges. Ybor City zum Beispiel, wo man
kubanisches Flair genießen und zusehen konnte, wie Zigarren von Hand gedreht
wurden. Es gab Adventure Island, ziemlich teuer, und das Florida Aquarium, mit
der täglichen Haifütterung. Es gab kostenlose Trolley-Busse zum
Salvador-Dalí-Museum, aber Jule fand die ausgestellten Werke von der Zeit
überholt und kitschig. Alles Käse. Der einzige Grund dieser Reise war gewesen,
bei Lisbeth zu sein. Ich hätte nie, fand sie nun, so überstürzt flüchten
dürfen, nur um einen von vornherein aussichtslosen Machtkampf anzuzetteln.
    In keiner Beziehung, dachte
Jule, gibt es ein ausgewogenes Kräfteverhältnis. Einer dominiert immer, und das
ist ja allermeistens ganz praktisch, um ständige Debatten zu vermeiden. War sie
Lisbeth nicht sogar dankbar gewesen, wenn jene ein wenig Druck ausübte? Zum
Beispiel bei der Realisierung dieser Reise, die nur durch ihr Machtwort (wir
machen das einfach und Punkt!) zustande gekommen war. Gut, Lisbeth hatte
getrunken und war pampig geworden, häßlich bis zur Unerträglichkeit, aber hätte
man sich ihrer Kritik nicht lieber stellen sollen, statt beleidigt das Weite zu
suchen? Je länger Jule darüber nachdachte, um so einleuchtender fand sie
Lisbeths Vorwürfe. Von Anfang an war die Reise von kleinen Nicklichkeiten
überschattet gewesen, die ihr als solche gar nicht aufgefallen waren. Aber
immer hatte es diese oder jene touristische Sensation gegeben, die alles
Private in den Hintergrund drängte. Nur in Naples, diesem entsetzlich
vergoldeten Dorf – und Jule verfluchte den Reiseveranstalter, der sich für
seine Kunden ausgerechnet dort einen viertägigen Aufenthalt ausgedacht hatte –,
war der Alltag über die Beziehung hereingebrochen.
    Ich habe meine Freundin
verraten und verlassen, nur weil ich nicht ertragen konnte, was sie mir auf den
Kopf zusagte. Aber wer, wenn nicht sie, besäße das Recht, mir etwas auf den
Kopf zuzusagen, ohne Umwege zu nehmen. Jemandem etwas auf den Kopf zuzusagen, was für eine grandiose und erbarmungslose Formulierung der deutschen
Sprache war das!
    Am 12. Februar, um drei Uhr nachmittags, schrieb Jule der Freundin eine SMS .
    Bin nach Tampa vorgefahren,
treffen wir uns morgen im Best Western Plaza? Es tut mir leid, daß ich die
Nerven verloren hab. Es ist so öde ohne dich. Deine Jule.
    Den Abend über und die
halbe Nacht wartete sie auf Antwort. Es kam keine. Konnte Lisbeth etwas
zugestoßen sein? Vielleicht war ihr Handy gar nicht an. Ich muß lernen, dachte
Jule, mir künftig nicht mehr so viele Sorgen zu machen, das ist etwas an mir,
was Lisbeth abgestoßen hat. Zu Recht. Es muß furchtbar sein, einen Menschen
neben sich zu haben, der immer mit dem Schlimmsten rechnet, alles schwarzmalt.
Ich werde mich bessern.
    Am 13. Februar, an ihrem
dritten Tag in Tampa, zog Jule in jenes Vier-Sterne-Hotel um, in welchem auch
Lisbeth bald einchecken mußte, wollte sie dem vorgesehenen Reiseplan
entsprechen. Man begrüßte die deutsche Touristin sehr zuvorkommend, sie habe
bereits Post. Der noch junge Empfangschef überreichte ihr die ausgedruckte
Nachricht in einem Kuvert. Freudestrahlend. Wie es in seinem Arbeitsvertrag
vorgeschrieben war.
    Bin nach Orlando und heimgeflogen.
Leihwagen ist abgegeben. Mach, was du willst. Du kannst mich. Lisbeth.

DIE FARBE DER ORANGE
    1. Dezember
    Die Leute, die nicht
sofort aus der U-Bahn aussteigen, die sich erst mal nach links und rechts
umsehen, in der Tür stehen bleiben und denen, die reinwollen, den Weg
versperren: widerwärtig. Dabei tun sie noch lässig, umgreifen den Türflügel und
schieben sich dann langsam nach draußen wie Cowboys, die sich an einer neuen
Zugstation, bevor sie den Bahnsteig betreten, nach
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