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Die letzten schönen Tage

Die letzten schönen Tage

Titel: Die letzten schönen Tage
Autoren: Helmut Krausser
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einen Neuanfang besitzt. Das ist schon sehr rührend, sagte Jule, und
folgerichtig. Ja, gab Lisbeth zu, aber den Herzinfarkt hat der Drehbuchautor
nur erfunden, damit es kein triviales Happy End gibt. Dabei sind Happy Ends gar
nicht trivial, im Gegenteil, in der Realität sieht es doch einfach meist so
aus, daß der Mensch am Leben hängt und weitermacht, irgendwie. Auch wenn die
neue Liebe nur noch ein flauer Abklatsch der alten ist. Eben das habe sie
gestört. Der Herzinfarkt des Hauptdarstellers verhindere eine gewisse
natürliche und sehr menschliche Erbärmlichkeit des Immer-Weiter-Wollens, wirke
wie ein Kunstgriff aus der Oper. Ausgedacht, von oben aufgepropft und
gekünstelt. Am Ende viel trivialer als ein vermeintliches Happy End. Denn,
erklärte sie, in einer solchen Situation wie der, in der sich der mittelalte
Mann befinde, habe der Tod nun einmal nichts Tragisches an sich, viel mehr
etwas Erlösendes, das der verlorenen Liebe ein Denkmal setzt, sie gar noch
verklärt und in Bernstein gießt. Das Ergebnis wolle europäischer Kunstfilm sein
und sei doch zutiefst Amerika.
    Jule hatte Lisbeth selten so
viel am Stück reden hören und wünschte nun, öfter mit ihr ins Kino gegangen zu
sein, so erhellend fand sie ihre Analyse, definitiv bereichender, als der Film
gewesen war. Das zweite Glas Wein hatte sie schon etwas betrunken gemacht, und
sie dachte sich nicht viel dabei, als sie Lisbeth fragte, was sie denn machen
würde, gesetzt den Fall – Jule brachte den Satz nicht zu Ende, aber Lisbeth
erriet den Schluß auch so.
    Daß du stirbst?
    Jule nickte.
    Dann such ich mir ein
Hochhaus, stehe da oben ganz lange, überlege mir zu springen und werde nicht
springen. Weißgott, nein. Ich würde an meinem letzten Rest Leben hängen und
alles tun, um dich zu vergessen.
    Ernsthaft? Jule hoffte auf
einen Scherz.
    Tut mir leid. Ich finde das
Leben einfach zu grandios, um es, aus welchem Grund auch immer, vor der Zeit zu
beenden. Ich würde weiterleben wollen, wie beschissen die Begleitumstände auch
immer wären. Schockiert dich das?
    Ein bißchen, gab Jule zu.
Obwohl sie innerlich erleichtert war, denn sie hatte stets befürchtet, als
Erste zu sterben und Lisbeth damit unter eine Art Zugzwang zu setzen. Genau
genommen hatte sie sogar gehofft, als Erste zu sterben, und wenn sie nun
darüber nachdachte, kam es ihr eigensüchtig vor, sich so aus jeglicher
Verantwortung zu stehlen.
    Aber du liebst mich noch?
    Selbstverständlich. Denn du
bist da.
    Aber wenn ich nicht mehr da
bin, liebst du mich nicht mehr?
    Dann ist doch nichts mehr da,
was ich lieben kann.
    Das klang so einfach, so
selbstverständlich. Und grausam.
    Jule schätzte an ihrer
Freundin, daß und wie sie die Dinge klar und sachlich benannte. Dennoch hätte
sie sich während des Urlaubs ein wenig Romantik gewünscht.
    Bedeutet das, du würdest
dir noch eine andere Liebe suchen?
    Ja doch. Du nicht?
    Jule schüttelte schwach den
Kopf. Suchen – nein. Vielleicht auf mich zukommen lassen. Nach einer gewissen
Zeit. Das ist doch nicht wie bei einem kaputten Fernseher, den man gleich durch
einen neuen ersetzt.
    Nein? In unserem Alter kommt
nicht mehr einfach was auf einen zu. Lisbeth nahm einen tiefen Schluck Wein.
Laut Statistik lebe ich noch circa fünfzehn Jahre. Ich würde nicht allein sein
wollen. Du würdest nicht wollen, daß ich dich vergesse. Aber wenn du tot bist,
bist du tot und spürst nicht mehr, ob sich jemand an dich erinnert. Das ist nun
einmal so, und es ist gut. Tot sein heißt zufrieden sein.
    Seien wir froh, daß wir
einander haben, flüsterte Jule und nahm Lisbeth in den Arm. Es fiel ihr schwer
zu ertragen, was sie eben gehört hatte. Eben weil es so logisch war,
kaltherzig. Anders als Lisbeth hielt sie ein Leben im Jenseits in irgendeiner
Form für möglich, doch schämte sie sich, diesen Standpunkt lauthals zu
vertreten. Etwas für möglich zu halten, bedeutet ja noch nicht, daß es
wahrscheinlich ist. Jule hielt sich einfach nur Optionen offen. Aber wenn es
ein Jenseits gab, dann sicher auch für jene, die vorher nicht daran geglaubt
hatten, ansonsten man einen eitlen Gott voraussetzen müßte, der Menschen aussortiert,
je nachdem, ob sie diesen Gott zu Lebzeiten verehrt hatten oder nicht. Eine
solch rachsüchtige, leicht zu beleidigende Gottheit hätte selbst Jule
abgelehnt. Wobei die Frage blieb, ob sich rachsüchtige Gottheiten einfach so
ablehnen lassen. All das dachte Jule im Stillen für sich. Hätte sie es laut
geäußert, wäre
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