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Die letzten Monate der DDR: die Regierung de Maizière und ihr Weg zur deutschen Einheit

Die letzten Monate der DDR: die Regierung de Maizière und ihr Weg zur deutschen Einheit

Titel: Die letzten Monate der DDR: die Regierung de Maizière und ihr Weg zur deutschen Einheit
Autoren: Ed Stuhler
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diesem Tag hochgerüstet zur ›Titanic‹, und wir haben eine Abschiedsparty gegeben. Also wir sind mit einem richtigen lauten Fest in die deutsche Einheit gegangen. Am frühen Abend noch kam Heiner Müller vorbei und hat mir ein Kapitänspatent verliehen für die ›schwere Arbeit auf dem sinkenden Schiff‹. Er ging dann weiter zur Schlussveranstaltung an der Akademie. Ich bin nicht zu diesen offiziellen Feiern gegangen, weil mir an dem Abend komischerweise so gar nicht danach war. Mir war weder nach der ›Ode an die Freude‹ noch war mir nach ›das letzte Mal in der ersten Reihe sitzen‹. Das hat mich alles nicht gereizt.
      Es wurde in dieser letzten Nacht auch der letzte Kunstpreis der DDR vergeben. Früh um eins oder halb zwei stand ich vor dem Ministerium und habe auf einer Heckklappe eines parkenden Autos noch die Kunstpreise unterzeichnet.«
      Umweltminister Karl-Hermann Steinberg: »Ich war im Reichstag. Die DDR-Regierung war in der zweiten oder dritten Etage, und wir konnten rausgucken und heraustreten und auf die Hunderttausende von Menschen blicken. Ich habe ein Glas Wein bekommen und hatte Tränen in den Augen. Dann gab es die große Ernüchterung. Mein Fahrer brachte mich in das Gästehaus der DDR-Regierung, wo ich ein Appartement hatte für 280 Mark im Monat. Wir bekamen ja ein relativ kleines Gehalt, und das waren mehr als zehn Prozent meines Gehalts, was ich für diese Zweitwohnung als Miete zu entrichten hatte. Ich wurde dann empfangen mit den Worten: ›Herr Professor, dieses Haus in Niederschönhausen ist jetzt in das

    Heiner Müller (1929 – 1995), DDR-Dramatiker und Regisseur, 1990 – 93 Präsident der Akademie der Künste der DDR.
    Eigentum des Bundesvermögensamtes übergegangen, und der Preis für Ihr Appartement ist jetzt 280 DM pro Tag.‹
      Da habe ich meinen Fahrer angerufen, der in Köpenick wohnte, er hat später übrigens Angela Merkel gefahren, und habe ihn gebeten, zurückzukommen und mich abzuholen. Dann sind wir früh um halb fünf ernüchtert weggefahren.«
      »Es war phantastisch!«, erinnert sich Klaus Reichenbach. »Ich habe an diesem Tag am Reichstag oben an einer Säule gestanden, ich war extra hoch gegangen, um diese Masse an Leuten zu sehen, diese Begeisterung! Und habe gedacht, jetzt habe ich es endlich hinter mir. Wollte dann nach dieser Veranstaltung nach Hause wandern, denn unsere Dienstfahrzeuge waren alle von den Menschenmassen blockiert.
      Ich bin mit meinen drei Personenschützern in Richtung Brandenburger Tor gelaufen, und wen treffen wir unterwegs? Lothar Späth. Zu Lothar Späth hatte ich aufgrund meines Vorsitzes der sächsischen CDU ein sehr gutes Verhältnis, wir waren per du. Er sagt dann: ›Pass mal auf, hier kriegt man sowieso keine Ruhe die nächsten zwei, drei Stunden.‹ Wir gingen dann in das ›Metropol‹, dieses Hotel an der Friedrichstraße. Dort trafen wir Henning Voscherau, den Bürgermeister von Bremen, und haben die Nacht noch drei Stunden Skat gespielt, weil wir einfach erst früh um 7.00 Uhr unsere Fahrzeuge frei hatten, um nach Hause zu fahren. Das war die Nacht für mich. Ich habe sie mit Skat ausklingen lassen, meinem Lieblingssport. Demzufolge war es ein rundherum gelungener Tag.«
      Lothar de Maizière, der letzte Regierungschef der DDR, steht in der Nacht zum 3. Oktober neben Helmut Kohl: »Auf dem Platz der Republik waren ja unzählige Menschen. Die schoben, es war fast bedrohlich. Man befürchtete, die Sicherheitsvorkehrungen könnten durchbrochen werden. Das Verhalten der dort oben auf der Rampe Stehenden war völlig unterschiedlich. Für Kohl war es ein großes Gefühl der Genugtuung: ›Ich habe es geschafft, ich habe es erreicht.‹ Schräg hinter ihm stand Willy Brandt, dem liefen die Tränen die Wangen herunter. Ich bin hin zu ihm und fragte: ›Herr Bundeskanzler, kann ich etwas für Sie tun?‹. ›Nein, Junge. Dass ich das noch erleben kann …‹ Er war tiefgerührt. Bei Oskar Lafontaine hatte man

    2.10.1990, Berlin, Einheitsfeier vor dem Reichstagsgebäude

    das Gefühl, ihm war das Ganze ein bisschen ungeheuerlich, er hatte keine Lust, neben Kohl zu stehen. Weizsäcker elegant wie immer.
      Bei mir war das Gefühl ambivalent. Ich war 50 Jahre alt, die DDR war quasi meine gesamte Biographie. Und jeder Neuanfang ist auch ein Abschied, es war ja auch viel Ungewissheit dabei, wie es weitergehen würde mit uns allen und welche Stelle wir haben werden. Meine jüngste Tochter war mit, und ich weiß
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