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Die Letzte Spur

Die Letzte Spur

Titel: Die Letzte Spur
Autoren: Charlotte Link
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erneut in den Ring zu steigen. Vor zweieinhalb Jahren hatte sie schon einmal einen derartigen Nervenzusammenbruch gehabt – wenn man ihre Übelkeit, das Fieber, das Zittern und das Schwindelgefühl so nennen konnte. Damals hatte sie plötzlich geglaubt, in Morpeth vor einem Fischgeschäft Pit gesehen zu haben. Sie war vollkommen sicher gewesen, ihn erkannt zu haben, den flachen Hinterkopf mit den dünnen Haaren, die sehnige Gestalt, von der man nicht glaubte, wie viel Kraft in ihr steckte, ehe man nicht Bekanntschaft mit seinen Fäusten gemacht hatte. Selbst von hinten strahlte er eine Brutalität aus, die atemlos machte. Sie hatte ihn immer viel mehr gefürchtet als Ron, denn Ron war klüger und berechenbarer. Pit hingegen war, ihrer festen Überzeugung nach, ein Psychopath. Er konnte jeden Augenblick komplett durchknallen, und wehe dem, der ihm dann zwischen die Finger geriet.
    In Morpeth war sie nur gewesen, weil sie dringend eine neue Jeans gebraucht hatte, und sie war überzeugt gewesen, dass nun ihre letzte Stunde geschlagen hätte. Bis heute wusste sie nicht, wie sie es noch bis zur Bushaltestelle, dann zurück in den Ort, in dem sie damals lebte, und in ihre Wohnung geschafft hatte.
    Sie hatte sich den restlichen Tag über immer wieder übergeben und bis zum Abend Fieber gehabt. Immer wieder hatte sie sich gesagt, dass es absolut keinen nachvollziehbaren Grund gab, weshalb sich Pit in Morpeth, Northumberland, herumtreiben sollte. Der einzige Grund konnte nur sie selbst sein.
    Sogar dem Schuhgeschäft war sie damals zwei Tage ferngeblieben, weil sie sich so krank fühlte und das dauernde Zittern ihrer Hände nicht unterdrücken konnte. Zunächst hatte sie alle Brücken hinter sich abbrechen und weiterziehen wollen, weit weg, an einen fernen Ort. Schottland vielleicht, die Hebriden … Aber am Abend des zweiten Tages war sie schon nicht mehr so sicher gewesen, dass der Mann vor dem Fischgeschäft wirklich Pit gewesen war. Sie rekonstruierte das Bild in Gedanken wieder und wieder, und plötzlich erschien es ihr nicht mehr überzeugend. Der Mann war größer gewesen als Pit, und seine ganze Körperhaltung hatte irgendwie nicht gestimmt. Die Haare waren zu dunkel, eine Nuance vielleicht nur, aber eben doch – dunkler.
    Auf einmal fragte sie sich erstaunt, wie sie überhaupt einen Moment lang hatte glauben können, bei dem Mann in Morpeth handele es sich um Pit, und schlagartig war es ihr besser gegangen.
    Diesmal war sogar noch weniger passiert. Samstagnacht, die dunkle Gasse, das gleißende Licht der Taschenlampe. Sie hatte geglaubt, dies sei das Ende. Er hatte sie gefunden. Hatte in einem dunklen Hauseingang verborgen auf sie gewartet. Gnade hatte sie nicht zu erwarten, dafür aber ein furchtbares Ende.
    Bis sie realisierte, dass es die kleine, alte Miss Pruett von schräg gegenüber war, die, ihren Basset an der Leine, eine Taschenlampe in der Hand und selbst zu Tode erschrocken, vor ihr stand, hatte ihr Körper bereits das ganze bekannte Programm durchlaufen: jäher Schweißausbruch, unkontrollierbares Zittern, ein Herzschlag, von dem sie meinte, er müsse die Erde beben lassen. Sie erinnerte sich, dass sie hatte schreien wollen, aber dass ihr plötzlich der Hals wie zugeschnürt war und dass sie keinen Ton herausbringen konnte.
    Wahrscheinlich hatte sie nur ein paar Sekunden so dagestanden, geblendet vom Licht der Lampe, aber ihr war es wie eine Ewigkeit erschienen. Dann hatte Miss Pruett endlich die Lampe sinken lassen und mit ihrer zittrigen Stimme erstaunt gesagt: »Ach – Sie sind das. Was tun Sie denn hier?«
    Ihre eigene Stimme hatte ihr erst nach zwei vergeblichen Anläufen gehorcht. »Miss Pruett«, hatte sie schließlich krächzend hervorgebracht, »das … das wollte ich Sie eigentlich fragen!«
    Wie sich herausstellte, war Zeb, der Basset, krank, eine Blasenentzündung, wie Miss Pruett beschämt verriet, und musste immer wieder vor die Tür. Da das Haus der alten Dame weder über einen Garten noch über einen Hof verfügte, blieb ihr nichts anderes übrig, als die ganze Nacht hindurch stündlich eine kleine Runde zu drehen.
    Eine harmlose Situation, die wieder einmal in ein Drama geführt hatte.
    Ich muss aufhören, in dieser ständigen Angst zu leben, sagte sie sich nun und betrachtete stirnrunzelnd die Kommode, die unter die Türklinke gerückt dastand, das macht mich krank. Und verrückt. Und zerstört mich.
    Es waren Jahre vergangen. Vielleicht hatte sie längst nichts mehr zu befürchten.
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